© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/14 / 28. März 2014

Er hatte die halbe Welt gesehen
Die Philologen Anton und Ute Schwob haben den fünften Band ihrer epochalen Edition über den frühneuzeitlichen Dichter Oswald von Wolkenstein vorgelegt
Reinhard Liesing

Oswald von Wolkenstein (1377–1445) gilt als der bedeutendste deutschsprachige Verseschmied zwischen Walther von der Vogelweide und Johann Wolfgang von Goethe. Seine in bairisch-tirolischer Lautung am Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen hinterlassene Dichtung ist in kostbaren Handschriften überliefert.

Kaum zehn Jahre geworden, büxt der 1387 als zweiter Sohn des Landadeligen Friedrich von Wolkenstein und dessen Ehefrau Katharina von Vilanders Geborene aus:

„Es fügt sich, do ich was von zehen jaren alt / ich wolt besehen, wie die werlt wer gestalt.“

Als Knappe dürfte er einen Standesherrn begleitet haben und von diesem in den üblichen ritterlichen Fertigkeiten unterwiesen worden sein. Aus seinen biographischen Liedern lassen sich Reisen und erste militärische Dienste für den Wittelsbacher König Ruprecht (von der Pfalz) und dessen Nachfolger Sigismund (von Luxemburg) erschließen. Oswald gelangt nach Ungarn, Böhmen, Litauen. Im zentralen Rechnungsbuch des Deutschen Ordens scheint sein Name für preußische Lande auf. Auf dem Alten Friedhof am Dom zu Brixen befindet sich der von Oswald 1408 (vor dem Aufbruch ins Heilige Land) in Auftrag gegebene Gedenkstein, der ihn als Kreuzritter mit langem Pilgerbart zeigt.

Oswald hat es nach Rußland, zu den Tataren, in die Türkei, nach Armenien, Syrien und Persien verschlagen; auf dem Schwarzen Meer erleidet er Schiffbruch. „In Races pei Saleren“ (in Ratzes am Schlern) ist er daheim gewesen, wie es in einem seiner Lieder heißt, und daß er „durch Barbarei Arabia“ (durch Berberland und Arabien) gekommen sei, in einem andern.

Reiseberichte wurden lange als Aufschneiderei ausgelegt

Gestützt allein auf das literarische Werk, neigte die Forschung lange dazu, ihm dies alles als Maulheldentum auszulegen – bis Germanisten viele Angaben Oswalds verifizieren konnten. Für Anton und Ute Schwob, die bedeutendsten Philologen, die sich jahrzehntelang mit ihm beschäftigten und deren Edition nun mit dem fünften und letzten Band abschließt (Band 1: 1382–1419, von 1999; Band 2: 1420–1428 von 2001; Band 3: 1428–1437 von 2004; Band 4: 1438–1442 von 2011), sind Oswalds autobiographische Aussagen „durchweg wahr“, und seine „Reiseberichte keine literarischen Topoi mehr, sondern Belege für die in der anbrechenden Neuzeit beginnende Aufwertung des Individuums“.

In die Heimat zurückgekehrt, wird er 1403 als „Gotteshausmann“ des Bischofs von Brixen erwähnt. Auf Bruder Michael, den Erstgeborenen, waren Lehen und ritterlicher Stand des Friedrich von Wolkenstein übergegangen, während „Junk(h)er Oswald“ zeitlebens nach Bestätigung der Ritterwürde trachtete, die ihm urkundlich erst 1430 zukam. Bei der Aufteilung des Familienvermögens 1407 hatte Oswald ein Drittel der Burg Hauenstein und damit zugleich einen schon älteren Besitzstreit geerbt, der später dramatische Formen annehmen sollte. Bei Adelsfehden gegen Herzog Friedrich IV. (von Österreich und Graf von Tirol) lockte man Oswald 1421 in einen Hinterhalt.

Es folgten Gefangenschaft und Folter auf Schloß Forst bei Meran sowie die Überstellung an Friedrich, der ihn in Axams bei Innsbruck einkerkerte. Erst 1427 wurde der Streit um Oswalds späteren Wohnsitz Hauenstein beigelegt, den er sich widerrechtlich angeeignet hatte und wo er mit seiner um 1417 geehelichten Frau Margarethe von Schwangau, den vier Söhnen und einer Tochter fortan lebte:

„Auff einem kofel rund und smal

mit dickem wald umbvangen /

vilhoher perg und tieffe tal /

stain, stauden, stöck, snestangen /

der sich ich täglich ane zal.“

Oswald nahm an zwei Kriegszügen im Deutschordensland Preußen gegen die Litauer und an einer Pilgerreise ins Heilige Land teil. Im Auftrag König Sigismunds unternahm er eine längere diplomatische Reise, die ihn – wohl über Britannien – auf die Iberische Halbinsel und nach Frankreich führte. In Perpignan war er in den renommierten Greifen- respektive Kannenorden von Aragon aufgenommen worden. Oswald war zudem an der portugiesischen Eroberung von Ceuta in Nordafrika (1415) beteiligt, das heute noch eine iberische Exklave ist. 1417 wurde er in den politisch brisanten Streit zwischen dem König, dem Herzog und dem Landadel hineingezogen. Der Streit endete 1427 mit einer erzwungenen gänzlichen Unterwerfung Oswalds.

Nach 1430 ist er mehrfach im Dienste Sigismunds bezeugt, der ihn schließlich in den elitären Drachenorden aufnahm – eine späte Genugtuung. Fortan konzentrierten sich Oswalds Tätigkeiten auf seine Heimat, wo er als angesehener Adeliger und juristischer Fachmann an Einfluß gewann.

Für jenen Tag, an dem „got über mich gepeut“ (gebietet), hatte der Wolkensteiner Vorkehrung getroffen. Unmittelbar am Brixner Dom ließ er eine dem auch im spätmittelalterlichen Tirol sehr verehrten heiligen Christophorus geweihte Kapelle errichten und von den Kaplänen seines Sankt-Oswald-Benefiziums versorgen. Daneben spendete er schon zehn Jahre vor seinem Tod Geld für ein Ewiges Licht in ebenjener Kapelle; Licht schützte nach damaliger Auffassung die Seele des Sterbenden und half dem Verstorbenen im jenseitigen Leben.

Der Tod ereilte den „edel vest herr und Ritter“ am 2. August 1445 im nahen Meran, wo es, wie oft in seinem unsteten Leben, um Fehdehändel ging. Unweit Brixens, im Augustiner-Chorherrenstift Neustift, wohin er sich bereits am 2. November 1411 einpfründete, hatte er sich vertraglich der Grablege an der Seite seiner Vorfahren versichert. 1973 waren bei Heizungsarbeiten in der Stiftskirche Teile eines Skeletts gefunden worden, die, geborgen von Klosterbibliothekar Martin Peintner, von führenden Schweizer Gerichtsmedizinern als Oswalds Gebeine identifiziert wurden.

Oswald war sehr auf seinen Nachruhm bedacht. Seine Texte sowie die zugehörigen Melodien ließ er in zwei kostbaren und gewiß teuren Pergament-Handschriften sammeln: Handschrift A (Nationalbibliothek Wien) wurde 1425, Handschrift B (Universitätsbibliothek Innsbruck) 1432 abgeschlossen, hinzu kamen jeweils einige Nachträge. Beide Handschriften enthalten auch Bildnisse des Autors: ein Vollbild und ein Porträt.

Bedeutendster deutscher Liederautor seiner Zeit

Schon 1977 hatte Anton Schwob die maßgebliche wissenschaftliche Biographie über den bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker und Liederautor am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit vorgelegt. Der emeritierte Altgermanist, der an der Karl-Franzens-Universität Graz das „Wolkenstein-Archiv“ begründete und über Jahrzehnte leitete, sowie seine Frau Ute, eine begnadete Philologin und Historikerin wie er, haben die weithin verstreuten knapp 700 Urkunden zu Oswald von Wolkenstein zusammengetragen, für die sorgfältig angelegte kritische Edition in fünf voluminösen Bänden umsichtig aufbereitet und meisterlich kommentiert.

Der erste Band stellt den zweitgeborenen Tiroler Kleinadeligen als umtriebig um Aufstieg bemühten Junker vor. Der Folgeband zeigt ihn als Rebellen, Gefangenen und Bittsteller. Im dritten Band begegnet uns der Rechtssachverständige, Krieger, Diplomat, Fürstenberater und Gefolgsmann des Königs als rastlos tätiger Politiker. Diese leidenschaftliche Anteilnahme am politischen Geschehen setzt sich im vierten Band fort. Heimgekehrt, mischt sich der Wolkensteiner mit der ihm eigenen Vehemenz in Prozesse, Geschäfte und Machtfragen ein.

Die im letzten Band erfaßten Jahre bis über seinen Tod hinaus bezeugen das hohe Ansehen des Oswald von Wolkenstein als Familienoberhaupt und führender Vertreter des Tiroler Adels, der entscheidend in die Politik seines Landes einzugreifen vermag. Diese Publikation ist zweifellos eine herausragende editorische Leistung auf dem Gebiet der Altgermanistik, die uns zudem einen tiefen Einblick in das Dasein am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit sowie in die politischen Geschehnisse zu Lebzeiten dieses für die deutsche Kultur bedeutenden Tiroler Landadeligen eröffnet.

Anton und Ute Schwob (Hrsg.): Die Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein. Band 5: 1443–1447. Böhlau Verlag, Wien 2013, gebunden, 384 Seiten, 39 Euro

Foto: Aus einer Sammlung der Lieder Oswald von Wolkensteins: Er war sehr auf seinen Nachruhm bedacht

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