© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/14 / 04. April 2014

Pankraz,
das Völkerrecht und das „nation building“

Es gibt ein Völkerrecht, aber keine Völker. So lautet der Spruch vieler offizieller Gutmenschen und Diskursaufseher, die sich zur Zeit über die Vorgänge in der Ukraine und auf der Halbinsel Krim auslassen. Mit der Okkupation der Krim, so tönen sie, habe Rußland auf schnödeste Weise das Völkerrecht verletzt. Andererseits sei die Moskauer Rederei vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ Unsinn, denn es gebe keine Völker, es gebe nur Staaten mit dazugehörigen Bürgern, manchmal auch fahrlässig „Bevölkerung“ genannt.

Im Eifer der neuartigen Definitionswut geraten selbst heiligste Güter linker Parolenausgeber auf die Anklagebank. So habe, hört man aus vielen Ecken, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nicht nur der damalige US-Präsident Woodrow Wilson, sondern auch der Genosse Lenin vom Selbstbestimmungsrecht der Völker gesprochen, dem man endlich zum Durchbruch verhelfen müsse – und dadurch sei alles Unheil des zwanzigsten Jahrhunderts losgebrochen, der Zweite Weltkrieg, die gegenseitigen Vernichtungsstrategien, die schrecklichen Morde und Vertreibungen.

Pankraz findet, daß genau umgekehrt ein Schuh daraus wird. Es gibt Völker, aber kein Völkerrecht, genauer: Das, was sich bisher „Völkerrecht“ nannte, ist gar kein wirkliches Völkerrecht, es ist (und war von Anfang an) die Bezeichnung von zu Papier gebrachten Verabredungen zwischen gewissen Staaten, wie man miteinander umgehen wollte und welche Regeln eingehalten werden sollten, wenn es zwischen ihnen zu Kriegen oder anderen Gewaltaktionen kommen sollte.

Man sprach dabei von „Völkerrechtssubjekten“. Das waren immer nur die beteiligten Staaten selbst einschließlich derjenigen, die von ihnen in ihren exklusiven Klub aufgenommen wurden, wie zum Beispiel das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, der Heilige Stuhl und der „souveräne“ Malteser Ritterorden. Doch nie wäre es, noch im 19. Jahrhundert, je einem Rechtsdenker in den Sinn gekommen, außereuropäischen „Kolonialvölkern“ Völkerrechtssouveränität zuzusprechen.

Heute gilt als wichtigste Rechtsquelle für das „Völkerrecht“ die Charta der Vereinten Nationen und das in ihr niedergelegte Allgemeine Gewaltverbot, das jedem Staat einen Angriffskrieg verbietet. Aber ein kurzer Blick auf die jüngere bis jüngste Geschichte genügt, um zu erkennen, was von der Rechtsgewalt dieser Charta und ihrem Verbot zu halten ist – nämlich nichts. Sie sind – man kann es kaum anders sagen – lediglich ein Instrument zur Durchsetzung imperialer, ideologisch verbrämter Ansprüche gegen den Willen und die Interessen der Völker.

Daran ändert auch die pompöse Eingangsrede über das Selbstbestimmungsrecht der Völker nichts, es ist bloße Propaganda, hinter der sich die eigentlichen Absichten diverser Regierungen und Staatenbündnisse verbergen. Immer geht es statt dessen um irgendwelche „universalen“, bewußt nationenübergreifenden Großprojekte, die im Namen des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ mit Paragraphen umflankt und so justifizierbar und einsatzfähig gemacht werden sollen.

Das sogenannte Völkerrecht ist nach wie vor das, was es seit Hugo Grotius gewesen ist: eine Gesetzgebung gegen Völker, die sich nicht ohne weiteres einem von außen verfügten Willen unterwerfen wollen oder können. Religiöse Überzeugungen oder pseudowissenschaftliche Generalpläne, Klasse-, Rasse- oder One-World-Halluzinationen wurden und werden in Stellung gebracht, denen anschließend Hekatomben von Menschenleben zum Opfer fallen, nebst hochdifferenzierten, bis dato oft glanzvollen Regionalkulturen, ihren Architekturen, Riten und weiteren, auf Raum und Natur Rücksicht nehmenden Bräuchen.

Wie steht es dagegen mit den Völkern, die es angeblich gar nicht gibt? Sind das tatsächlich nur „Stämme“, primitive Vorfahren des „wahren“ Menschen, deren putzige Überreste man im Völkerkundemuseum besichtigen kann? Nun, wer so redet, hat keine Ahnung von dem, was menschliche Gemeinschaft eigentlich bedeutet. Denn der Mensch ist ein gefühlsbedingtes Gemeinschaftstier, das nur in räumlich wie seelisch überschaubaren Räumen zu überleben vermag. Außerdem ist er das „erfindende“ Tier, das über sich hinaus will, das sich transzendieren will. Und genau dazu braucht er das, was wir „Volk“ nennen.

„Volk“ meinte immer mehr als bloße Stammeszugehörigkeit oder bloße Clan-Mitgliedschaft. Es verkörperte sowohl Traditionsverbundenheit als auch Ausgriff in die Zukunft. Aus diesem Grund sprach man in der Epoche der Staatsgründungen seit der Renaissance, wenn nötig, stets nur von „Vielvölkerstaat“, nicht von Vielstämmestaat oder Clan-Staat. Ein Volk ist die freie, in einem Staat durch Sprache, Tradition („gemeinsame Werte“) und bürokratische Effizienz optimal geeinte Menschengemeinschaft. Deshalb ja auch der Begriff des „nation building“, der zu einem Schlüsselbegriff der Moderne geworden ist.

Bekanntlich hat die US-Regierung seinerzeit mehrere Länder in weit von ihr entfernten Weltregionen angeblich nur deshalb angegriffen, weil sie sie mit „nation building“ beglücken wollte. Das mußte mißlingen, weil dabei das Selbstbestimmungsrecht der Völker mit Füßen getreten wurde. Das Recht der Völker auf Selbstbestimmung ist aber nun einmal das A und O jeder Art von „nation building, und das gilt sowohl nach außen wie nach innen.

Zum Wesen eines Volkes gehört ein beträchtliches Maß an innerer Freiheit und Liberalität, das jeder autokratischen beziehungsweise unempfindlich-bürokratischen Herrschaft letztlich Grenzen setzt. Andererseits gehört dazu, daß sich auswärtige Imperien nicht einmischen, auch und gerade wenn ihre Gründe äußerst ideell daherkommen. Volksherrschaft muß aus sich selbst heraus wachsen und sich sorgfältig auf örtliche und traditionelle Gegebenheiten einstellen. Das wäre übrigens ein wichtiger Grundsatz eines Völkerrechts, das diesen Namen endlich verdienen würde.

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