© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/14 / 04. April 2014

Dorn im Auge
Christian Dorn

Lacancan, oder: Signifikant und Signifikat, was drück ich jetzt in den Skat? Nachdem sich „Das Andere“ schon seit Jahrzehnten aus den universitären Diskursen hinausgeschlichen hat, geistert die Lehre des Psychoanalytikers Jacques Lacan noch immer durch Raum und Zeit. Denn: „Artikuliert ist das Begehren, gerade weil es nicht artikulierbar ist.“ Dieser widersprüchliche Satz dürfte paradigmatisch sein für das Verständnis seines Werks – und beschert ihm bis heute Adepten: Auf einer Vernissage treffe ich eine Künstlerin, die jetzt auf Lacansche Psychoanalyse umschult. In der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung gerate ich an eine an Lacan geschulte Doktorandin, die Deutschland als Einwanderungsgesellschaft definieren will. Ob da Lacans Aufsatz „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ (1949) hilft?

Als wäre es eine Adaption der Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ begrüßt mich jeden Morgen am S-Bahnhof Schönhauser Allee ein Zigeuner mit seiner Ziehharmonika. Er improvisiert dort unverdrossen in einer Endlosschleife das Thema „When the Saints Go Marching In“ – und erinnert mich zwangsläufig an „Das Heerlager der Heiligen“. Daneben klebt ein Plakat für das Theaterprogramm im Aufbau-Haus Kreuzberg und wirbt für die „Asyl-Monologe“. Meine Gedanken wandern zu den „Vagina-Monologen“ und von dort zum Bundeskongreß der Grünen Jugend in der einstigen Stasi-Hochschule, als der grüne Nachwuchspolitiker Ario Ebrahimpour Mirzaie eine „gerechte Migrationspolitik“ forderte: „Wenn jemand einwandern will, helft ihm, fickt das System!“ Die Fernsehbilder von den muskulösen, großgewachsenen Afrikanern, die selbst- und siegesbewußt in die Kamera grinsen und dabei ihre Faust recken, bilden in meinem Kopf einen Kreislauf.

Auf dem Gehweg läuft eine junge, hübsche Mulattin vorbei, sie wird von einem Paar gerufen: „Hey, du, warst du nicht mal bei ‘Made in Berlin’?“ Die Angesprochene bejaht kurz und ist gleich darauf meines Blicks entschwunden. Dafür treffe ich wieder auf die so schöne wie gescheite Französin vor einigen Tagen: Bei Matthes & Seitz wird der Essay des auf französisch philosophierenden Italieners Francesco Masci vorgestellt. Diesem zufolge ist Berlin mit einer Bilderflut gesegnet, deren individualistisches Freiheitsversprechen Selbstbetrug sei. Der Titel des Büchleins zitiert den letzten Aufsatz Rosa Luxemburgs vor ihrer Ermordung: „Die Ordnung herrscht in Berlin“ – und ich halte es mit Erich Fried: Freiheit herrscht nicht, Freiheit ist.

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