© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/14 / 04. April 2014

Die individuelle Schuld und der Massenmord
Devin O. Pendas bemerkenswertes Buch über die Auschwitz-Prozesse 1963 liegt nun auf deutsch vor
Thorsten Hinz

Am 20. Dezember 1963 wurde in Frankfurt am Main der sogenannte Auschwitz-Prozeß eröffnet. Vor Gericht standen 23 Aufseher des Konzentrationslagers. Das Verfahren endete im August 1965. 20 Angeklagte erhielten ihr Urteil: Fünfmal lautete es auf lebenslänglich, 13mal wurden zeitlich begrenzte, zum Teil sehr beträchtliche Freiheitsstrafen verhängt; zwei Angeklagte kamen mit einem Freispruch davon. Auf längere Sicht erwies der juristische Aspekt des Prozesses sich als nachgeordnet. Denn von nun an war Auschwitz das globale Synonym für den Völkermord an den europäischen Juden.

Angesichts der politischen und gesellschaftlichen Bedeutung des Prozesses und der Neigung der Historiker, ihre Themen den runden Jubiläen anzupassen, mutet es merkwürdig an, daß kein deutscher Zeitgeschichtler sich zum 50. Jahrestag des Prozeßbeginns zu einer Buchveröffentlichung bemüßigt sah. Ersatzweise hat der Siedler-Verlag ein bereits 2006 in den USA erschienenes Werk in deutscher Übersetzung herausgebracht.

Der Autor Devin O. Pendas ist Professor am Boston College. Sein Arbeitsfeld sind die Rechtsgeschichte, Fragen des Kriegs und des Völkermords. In dem Buch geht es ihm nicht um divergierende Opferzahlen oder die Rangfolge der Todesarten, sondern um die juristische Aufarbeitung, genauer: um die Unmöglichkeit, einem Völkermord mit den Mitteln des traditionellen Strafrechts beizukommen.

Der Autor argumentiert sachlich, was angesichts der Thematik und der Schwere der bezeugten Verbrechen Anerkennung verdient. Dem Gericht und der Staatsanwaltschaft konzediert er ein ehrliches Bemühen um Aufklärung. Die Juristen widerstanden einem enormen Erwartungsdruck. Dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, einer der ersten profilierten „Nazijäger“ und Initiator des Verfahrens, hatte ein deutscher „Eichmann-Prozeß“ vorgeschwebt.

Die DDR entsandte ihren Staranwalt Friedrich Karl Kaul, dem es um den Nachweis ging, daß zwischen dem Betrieb des Lagers und der „Vernichtung durch Arbeit“ einerseits und den Bedürfnissen der Konzerne andererseits ein Zusammenhang bestand. Auschwitz sollte als die logische Konsequenz des Kapitalismus dargestellt werden. Und natürlich stand die außenpolitische Reputation der Bundesrepublik auf dem Spiel. Doch „für das Gericht war dieses Verfahren gegen ‘Mulka und andere’ kein Auschwitz-Verfahren, sondern ein Verfahren gegen ‘Mulka und andere’“.

Pendas hebt den juristischen Scharfsinn der Rechtsanwälte und die Schlüssigkeit ihrer Argumentation hervor, auch wenn er ihre Intention mißbilligt. Die Anwälte argumentierten, daß die Mandanten Teil eines arbeitsteiligen Mechanismus waren und es auf sie als Individuen gar nicht ankam, weil sie übergeordneten, staatlichen Willen erfüllten. Dem konnte das Gericht sich schwer entziehen, weshalb die härtesten Strafen für erwiesenen individuellen Sadismus ausgesprochen wurden, nicht aber für die Teilnahme an Massentötungen. Die Urteile folgten dem deutschen Strafrecht, das den Mord an subjektiven Merkmalen wie der Heimtücke festmacht und auf den Nachweis des konkreten Tatanteils besteht.

Pendas meint, daß diese Sicht der Qualität der Verbrechen nicht gerecht wurde. Die Fokussierung auf die individuellen Tatanteile habe dazu geführt, daß der Prozeß keine „historisch angemessene Darstellung des Völkermords an den Juden“ lieferte. Da muß man ihm zustimmen, doch konnte letzteres nicht die Aufgabe eines rechtsstaatlichen Prozesses sein. Andernfalls wären die Angeklagten zu Statisten degradiert worden, an denen ein historischer Lehrsatz exekutiert wird.

Geschichte sei aus dem Gericht „verbannt“ worden

Auch Pendas kann – und das ist eine Schwäche des Buches – keine überzeugende Alternative bieten. Seine Verweise auf die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ignorieren alle Einwände, die gegen deren Rechtspraxis vorgebracht wurden – auch aus den USA und Großbritannien. Zu den stärksten Kritikpunkten gehört, daß nur von Deutschen begangene Kriegsverbrechen, nicht aber die der Alliierten zur Sprache kommen durften. Somit war die Frage ausgeschlossen, wieweit die zur Anklage stehenden Kriegsverbrechen einem Muster wechselseitiger Eskalation angehörten. Man muß nicht so weit gehen, mit Ernst Nolte das „logische Prius“ des Gulag gegenüber Auschwitz zu konstatieren. Es genügt danach zu fragen, ob die Radikalisierung der Nationalsozialisten möglicherweise auch mit dem Bombenkrieg und später der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation zusammenhängt.

Weil Pendas solche Problem- und Fragestellungen fernliegen, fällt sein Vorwurf, die Geschichte sei aus dem Gerichtssaal „verbannt“ worden, in sich zusammen. Erstens ist ein Gericht ohnehin nicht der Ort, um Geschichte zu verhandeln. Zweitens meint er gar nicht die Geschichte, sondern ein von den Siegermächten festgeschriebenes Geschichtsdogma.

Er zitiert Daniel J. Goldhagen, der für den Holocaust den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen verantwortlich machte. Pendas sieht die Ursache weniger monokausal, doch in der Hauptsache glaubt auch er, „daß der Holocaust die Gesellschaft als Ganzes erfaßt hatte“ und die Deutschen als „organisiertes Kollektiv“ an ihm beteiligt gewesen waren. Seine abwegige Schlußfolgerung, der Auschwitz-Prozeß habe der Selbstentlastung der Deutschen gedient, ist da nur konsequent!

Das Manuskript wurde, wie gesagt, bereits 2006 abgeschlossen. Für die deutsche Ausgabe hat Pendas ein kurzes Nachwort verfaßt. Die aktuellen Folgen des Prozesses in Deutschland werden trotzdem kaum thematisiert. Fast siebzig Jahre nach Kriegsende stehen weitere Mord-Prozesse mit Auschwitz-Bezug in Vorbereitung, obwohl der Nachweis individueller Schuld naturgemäß fast unmöglich ist. Die bundesdeutsche Justiz nähert sich damit der Praxis der DDR-Justiz an, der die bloße Zugehörigkeit der Angeklagten zu bestimmten Einheiten genügte, um drakonische Urteile zu fällen.

Pendas’ Kritik am Frankfurter Auschwitz-Prozeß wird in der Bundesrepublik also längst ernst genommen. Ob er mit der Art und Weise, in der das geschieht, glücklich ist, das hätte man gern erfahren. Sein Buch versammelt eine Fülle interessanter Fakten und Fragestellungen. Doch der historische Rahmen ist zu schmal und die theoretische Durchdringung läßt zu wünschen übrig.

Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozeß. Völkermord vor Gericht.

Siedler Verlag, München 2013, gebunden, 432 Seiten, Abbildungen, 24,99 Euro

Foto: Auschwitz-Prozeß im Frankfurter Bürgerhaus, Aufnahme vom 4. April 1964: Die Richter standen unter enormem Erwartungsdruck

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen