© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Genauer schießen, schneller reagieren
Rußland: Mit einem Milliardenprogramm versucht Moskau, seine militärische Präsenz zu verstärken
Dieter Farwick

Neue Kampfjets für Rußlands Luftstreitkräfte“ titelte die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Novosti vergangene Woche. Spätestens im Jahr 2015 solle die Auslieferung der bestellten 48 Suchoi-35S-Kampfjets für Rußlands Luftstreitkräfte abgeschlossen sein. 24 Stück seien bereits an die russische Luftwaffe geliefert worden, zwölf weitere sollen bis Jahresende übergeben werden.

Im vergangengen Jahr erhielten die Teilstreitkräfte nach Angaben des stellvertretenden Verteidigungsministers Rußlands, Armeegeneral Dmitrij Bulgakow, bereits rund 300 neue Raketensysteme und Artilleriegeschütze, darunter Kurzstrecken-Raketensysteme Iskander-M, Fla-Systeme Tor-M2U und Panzerhaubitzen Msta-SM Chrisantema-S erhalten.

Waffenexport bringt wichtige harte Devisen

Diese Erfolgsmeldungen liegen ganz im Zeichen der neuen Militärdokrin, die Rußlands Regierungschef Wladimir Putin kurz vor den Präsidentschaftswahlen untermauerte. Im Februar des Jahres 2012 kündigte er in einem Beitrag für die Rossijskaja Gaseta eine „beispiellose“ militärische Aufrüstung an: „In den kommenden zehn Jahren werden die russischen Truppen über 400 moderne ballistische boden- und seegestützte Interkontinentalraketen, acht strategische U-Raketenkreuzer, etwa 20 Mehrzweck-Untersee-Boote, mehr als 50 Kampfüberwasserschiffe, zirka 100 Weltraumapparate militärischer Bestimmung, über 600 moderne Flugzeuge, inklusive der Kampfjets der fünften Generation, mehr als 1.000 Hubschrauber, 28 Flugabwehr-Raketensysteme S-400, 38 Fla-Raketensysteme Witjas, zehn Raketensysteme Iskander-M, über 2.300 moderne Panzer, ungefähr 2.000 Selbstfahrlafetten sowie mehr als 17.000 Stück Kfz-Militärtechnik bekommen.“

Überhaupt, so zitiert Ria Novosti Putin weiter, müsse Rußlands Armee dann „unbedingt mit grundsätzlich neuer Technik ausgerüstet werden, die ‘weiter sieht, genauer schießt und schneller reagiert’ als analoge Systeme bei einem beliebigen potentiellen Gegner.“

Streitkräfte folgen als politische Instrumente dem Primat der Politik. Sie erhalten auf der Grundlage der Militärdoktrin die Ressourcen, die sie für das Umsetzen politischer Aufträge benötigen. Das ist die Theorie. In der Realität werden Kompromisse zwischen dem Wünschbaren und dem wirtschaftlich Machbaren gefunden. Das gilt auch für Rußland. Ihre Personalstärke liegt nur bei 80 Prozent der Sollstärke von einer Million. Trotz der gestiegenen Ausgaben ist der Modernisierungsgrad von 60 Prozent unbefriedigend, er soll bis 2020 auf 70 Prozent steigen.

Eine der Ursachen für diesen Mißstand ist die Priorität der Rüstungsexporte, die benötigte harte Devisen bringen. Der Anteil des Verteidigungshaushaltes am Bruttosozialprodukt soll von zwei Prozent im Jahre 2012 auf 3,9 Prozent im Jahre 2016 steigen. Der Rüstungshaushalt soll nach einem vor kurzem veröffentlichten Bericht des US-amerikanischen Wirtschaftsforschungsinstituts IHS real von 69 Milliarden US-Dollar im Jahr 2013 auf 98 Milliarden im Jahre 2016 steigen.

„Exportschlager“ sind Kampfflugzeuge – wie das Jagdflugzeug Suchoi T-50, der Panzer T-50 und Flugabwehrraketen S-500 (Triumf-5). Dank der Qualität dieser modernen Bewaffnung und Ausrüstung liegt Rußland bei den weltweiten Rüstungsexporten hinter den USA und vor Deutschland an zweiter Stelle.

Die Gefahr für Rußland geht vom Osten und Süden aus – nicht vom Westen. Sibirien ist von der russischen Bevölkerung weitgehend verlassen. Rund zwei Millionen Chinesen sollen bereits in dieses geopolitische Vakuum eingesickert sein. Aus dem Süden droht Rußland der aggressive Islamismus.

Die Schwäche der konventionellen Streitkräfte, das gesamte Rußland zu verteidigen, erhöht die Bedeutung der Nuklearwaffen als Abschreckung und taktisches Einsatzmittel. Dies wird unterstrichen durch die Entwicklung des Nuklear-U-Bootes SSBN – Jurij Dolgoruki. Rußland schließt sogar den Erst-einsatz von Nuklearwaffen nicht aus. Dies zeigen zwei Tatsachen: Von der politischen und militärischen Führung wurde betont, daß ein nuklearer Angriff eine reale Option ist, falls die Nato ihr Raketenabwehrsystem in Polen ausbaut, das nicht gegen Rußland gerichtet ist, sondern gegen den Iran.

Ein weiteres Indiz für die russischen nuklearen Absichten war die Übung „Zapad 2009“. In dieser Übung, die im Westen wenig Beachtung fand, wurde ein russischer Angriff gegen die baltischen Staaten und gegen Polen simuliert – einschließlich eines nuklearen Erstschlages gegen Warschau.

Die russischen Streitkräfte haben schwere Zeiten hinter sich. Der schmachvolle Abzug der Sowjettruppen aus Afghanistan im Jahre 1989 nach zehnjährigem Krieg mit rund 15.000 gefallenen Soldaten und der unrühmliche Abzug der dann russischen Truppen aus Osteuropa bis 1994 sowie die widrigen Lebensbedingungen in der Heimat haben der Moral der Truppe schweren Schaden zugefügt, zumal die Kürzung der Mittel Bewaffnung und Ausrüstung in großem Umfang veralten ließ. Der verlustreiche Krieg im Kaukasus ist auch in den Streitkräften unpopulär. Die Korruption im militärisch-industriellen Komplex und in den Streitkräften schluckt einen Teil der für die Bewaffnung und Ausrüstung vorgesehenen finanziellen Mittel.

Es war der Krieg gegen Georgien 2008, der von der politischen und militärischen Führung sorgfältig ausgewertet wurde. Die Erkenntnisse waren ernüchternd in allen Bereichen – Aufklärung, Kommunikation, Nutzung von Computern, Führungsfähigkeit der Generäle und Stabsoffiziere im „Gefecht der verbundenen Waffen“. Sie führten zu der Absicht einer kompletten Runderneuerung und dem „Modernisierungsplan 2020“ . Der Tod von Tausenden Soldaten außerhalb des Kampfgeschehens durch Mord durch Vorgesetzte und Kameraden, durch Hungersnöte, Krankheiten und Alkoholexzesse sowie durch Unfälle wird von der Gruppe der „Soldatenmütter“ immer wieder angeprangert.

Die politische Führung hat immer wieder Reformversuche unternommen, um die Lage der Streitkräfte zu verbessern. So sollte die Rote Armee zu einer zahlenmäßig kleineren Armee von Berufs- und Zeitsoldaten unter Verzicht auf Wehrpflichtige umgebaut werden.

Da es nicht genügend „Kontraktniki“ – Berufs- und Zeitsoldaten – gab, wurde das System der Wehrpflicht beibehalten. Eine Reduzierung des Offizierskorps von 250.000 auf 175.000 wurde wieder rückgängig gemacht, da es nicht genügend Unteroffiziere gab, die die Offiziere ersetzen könnten.

Quantität und Qualität der russischen Streitkräfte – Land- und Luftstreitkräfte – im westlichen Militärdistrikt reichen aus, um die Ukraine zu erobern. Die Nato-Mitgliedstaaten wollen und können der Ukraine militärisch nicht zur Hilfe kommen.

Baltische Staaten fürchten Moskaus Militärmacht

Das sieht anders aus, wenn Rußland ein Nato-Mitglied – einen baltischen Staat oder Polen – ins Visier nehmen sollte. Zur besseren Sicherung dieser Staaten können defensive militärische Einsätze unverzüglich erfolgen. So können die Nato-Ostseeanrainerstaaten der Hauptstadt Estlands, Reval (Tallin), einen Flottenbesuch abstatten und gemeinsame Übungen durchführen. Im Sinne des „show of force“ (Machtdemonstration) können schnelle Eingreifverbände der Nato und EU an die Ostgrenze der Nato-Mitgliedstaaten verlegt werden. Mit einem Angriff gegen ein Allianzmitglied würde sich Moskau mittelfristig politisch, militärisch und finanziell übernehmen. Rußland hat in der kurzen Zeit des Konfliktes bereits 400 Milliarden Rubel verloren.

Der renommierte britische Sachverständige für die russischen Streitkräfte Roger N. McDermott kommt zu einem für Moskau unbefriedigenden Ergebnis: Rußlands konventionelle Streitkräfte, so McDermott, blieben im Vergleich mit den militärischen Strukturen der Nato „schwach“. Zudem fehlten ihnen „Fortschritte in der Modernisierung der Ausrüstung und der Waffensysteme, während ihr Personal zu stark auf die Wehrpflichtigen mit einer Dienstzeit von 12 Monaten angewiesen“ sei. Allerdings seien diese Kräfte „deutlich stärker als die der ehemaligen Sowjetrepubliken, die in einer Sicherheitskrise nicht mithalten oder Moskau keine entsprechende Antwort geben“ könnten. Diese Tatsache, verbunden mit der weit entwickelten Fähigkeit der strategischen Aufklärung, „erlaube dem Kreml, mit den westlichen Schwächen zu spielen und die Schwächen der unmittelbaren Nachbarn für einen geopolitischen Gewinn auszunutzen.“

 

Dieter Farwick, Jahrgang 1940, ist Brigadegeneral a.D. und Publizist. Der langjährige Chefredakteur des Onlinedienstes „World Security Network“ ist Mitglied des International Institute for Strategic Studies, London

Foto: Parade in Moskau zum „Tag des Sieges“ (9. Mai 2012): Putin als Förderer einer „bei-spiellosen“ militärischen Aufrüstung

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