© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Pankraz,
Doktor Haass und die russische Seele

Viel gerätselt (und gespöttelt) wird zur Zeit vor allem in Amerika über die „merkwürdige Liebe der Deutschen zur russischen Seele“ (Wall Street Journal), die der eigentliche Grund sei für das offensichtliche Zögern der Berliner Außenpolitik in Sachen Sanktionen gegen Rußland wegen der Krim-Politik. Pankraz findet das verwunderlich und irgendwie vorgeschoben. Was soll denn das? fragt er sich. Haben wir denn wirklich ein spezielles Verhältnis zur russischen Seele? Haben wir je eines gehabt?

Die Russen selbst jedenfalls haben nie etwas davon gemerkt. Sicherlich, es bestand hierzulande das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch ein diffuses Gefühl der Dankbarkeit für die machtvolle russische Hilfe bei der Vertreibung Napoleons. Und schon seit dem achtzehnten Jahrhundert wanderten zahlreiche Deutsche nach Rußland aus, Handwerker, Ärzte, Universitätsprofessoren, Unternehmer jeglicher Couleur, gerufen von dort regierenden Zaren und Güterverwaltern. Das russische Wort für Deutsche ist im übertragenen Sinne identisch mit dem Wort für Fremde, Zuzügler überhaupt – „Njemcy“.

Aber das Verhältnis zwischen Njemcy und Einheimischen blieb immer sachlich, reichte – bei aller gelegentlichen Sympathie – nie in echte Seelentiefen hinein. In der großen russischen Literatur, von Turgenjew bis Bunin, erscheint der Njemjec überwiegend als zwickerbewehrter Oberlehrer, vollgepackt mit Wissen, doch oft auch recht weltfremd, Respekt einflößend, doch nur selten geeignet für spontane, wodkabeflügelte Gespräche über Gott, den Teufel und die Welt im Ganzen.

Fjodor Dostojewski, der viel in Deutschland gelebt hat, nannte die Deutschen „das protestierende Volk“. Das war damals vor hundertdreißig Jahren ganz sachlich gemeint, weder positiv noch negativ. Und gerade dadurch gewann es kräftigen Widerhall, wurde oft zitiert: Thomas Mann hat ihm in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zentralen Platz eingeräumt. Aber auch er ließ keinen Zweifel daran, daß Dostojewskis Sympathie und Anteilnahme natürlich dem russischen Volk galt, dem „christlichen Volk sui generis“, das in Übereinstimmung mit der Botschaft Gottes zu leben trachtete.

Nur Verachtung hatte Dostojewski für den westlichen Utilitarismus und Hedonismus, der „das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl“ zum absoluten Ideal erklärte. Aber bei der Durchmusterung der deutschen Geistesgeschichte geriet er in Irritationen. Die Deutschen waren weder unverbrüchlich nach dem Transzendenten ausgerichtet noch flach utilitaristisch. Sie paßten in kein Schema und waren immer irgendwie dagegen. Das, notierte er, war eine heikle Gratwanderung, weil sie damit nur allzu leicht für alle Seiten zum Stein des Anstoßes werden konnten.

Auf deutscher Seite war die Meinung über russische Seelenlagen und ihre möglichen Folgen stets nicht weniger skeptisch; Großlyriker wie Rilke blieben die absolute Ausnahme. Der hatte einst voller Empathie gedichtet, daß Rußland als einziges Land der Welt „direkt an den Himmel“ grenze (ohne sich freilich genauer darüber auszulassen, was das genau bedeute). Die übrigen Geistesgrößen blieben allesamt auf dem Teppich und waren sich darüber einig, daß man auf jeden Fall ein gewaltiges organisatorisches Geschick entfalten müsse, um nicht in die „schirokaja natura“, die breite Natur, der Russen zu verströmen.

Das zwanzigste Jahrhundert, das Abgleiten der „schirokaja natura“, in Bolschewismus und Stalin-Kult, hat dann hierzulande wohl alle romantischen Theorien über Feinheiten und Gottesnähe der russischen Seele ein für allemal ausgetilgt. Sämtliche Rituale und Symbole des alten Russentums wurden entweder ausgelöscht oder auf lächerlichste Weise in ihr Gegenteil verkehrt, und hinzu trat eine derart ungeschickte und tölpelhafte Nachahmung westlicher, speziell US-amerikanischer Produktionsmethoden, Kulturpraktiken und imperialer Ausbrüche, daß sich wahrscheinlich selbst Rainer Maria Rilke zu Tode gegraust hätte.

Das deutsch-russische Verhältnis ist durch die Ereignisse im zwanzigsten Jahrhundert gewissermaßen bis auf den Nullpunkt heruntergekühlt und entromantisiert worden. Aber dergleichen hat auch durchaus sein Gutes. Man kann sich nun keine Illusionen mehr übereinander machen, selbst wenn einem das mit schnöder Hinterabsicht von außen eingeflüstert würde. Sachliche, für beide Seiten nutzbringende Absprachen und Vereinbarungen sind möglich, sowohl in der Politik als auch und vor allem in Wirtschaft und Kultur.

Und daß die neue Sachlichkeit nicht im mentalen Dauerfrost erstarren muß, ist ebenfalls absehbar. Illusionslosigkeit und sachlicher Umgang miteinander sind à la longue kein schlechter Nährboden für das Wachsen von Sympathie und guten „Narrativen“. Man braucht dazu natürlich historische Gestalten, die man sich zum Vorbild nehmen kann, doch daran ist kein Mangel. Pankraz denkt zum Beispiel an den Mediziner Friedrich

Joseph Haass (1780–1853) aus Münstereifel, der seinerzeit als junger „Njemjec“ nach Moskau ging und dort alsbald eine Tätigkeit entfaltete, die überall in Europa Staunen hervorrief.

Haass war ein durch und durch sachlicher Gelehrter, aber von Anfang an voller humanitärer und auch politischer Ambitionen. Zunächst Privatarzt bei der reichen Oberschicht, eröffnete er bald auch eine Praxis für Arme, die sich keine teure Behandlung leisten konnten, und schließlich gelang es ihm aufgrund guter Beziehungen, sogar Zugang in die Gefängnisse und Verbannungsorte des Landes zu finden und dort nicht nur medizinisch, sondern auch sozial und seelsorgerisch tätig zu werden, über ein Vierteljahrhundert hinweg.

Noch zu Lebzeiten wurde Haass von allen Seiten als der „heilige Doktor Rußlands“ apostrophiert; als er starb, folgten über 20.000 Menschen seinem Sarg, und alle weinten um ihn. Auf dem Moskauer Wjedenskoje-Friedhof ist sein Grab noch heute zu besichtigen und wird viel besucht – ein Symbol moderner deutsch-russischer Zusammenarbeit 2014.

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