© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Lebenslang mit Sicherungsverwahrung
Dämon und Held? Ein Jurist bewertet das Verhalten von Odysseus unter strafrechtlichen Gesichtspunkten
Sebastian Hennig

Ein Jurist macht Odysseus den Prozeß. In seinem Buch „Odysseus – Daimon oder Heros?“ bewertet Klaus Thomas, Jahrgang 1959, die Irrfahrten des listenreichen griechischen Heerführers und Herrschers über Ithaka. Exakter: „Seine Taten während seiner Irrfahrt und Heimkehr unter strafrechtlichen, physikalischen, anthropologischen, faunistischen und botanischen Aspekten“, wie der Untertitel von kurioser Sachlichkeit des amüsanten, gelehrigen Werkes lautet. Thomas verweist auf die 1968 ohne Autorenangabe erschienene Studie „Richard Wagners ‘Ring des Nibelungen’ im Lichte des deutschen Strafrechtes“ aus der Feder des Gifhorner Amtsrichters Ernst von Pidde als Anregung seines Unterfangens.

Von Odysseus wird berichtet, er würde sitzend größer erscheinen als aufrecht stehend. Auch auf der Anklagebank dieses Strafgerichts wirkt er imposanter fast als in Homers Gesängen. Vorab wird seine Schuldfähigkeit grundsätzlich bejaht. Die Leiden des Odysseus durch „göttliche Willkür“ werden nicht als unangemessene Doppelbestrafung gewertet, sondern lediglich bei der Strafbemessung berücksichtigt. In einem Exkurs streift Thomas die bei der Belagerung Ilions begangenen Straftaten. Der eigentliche Katalog der Untaten der Rückreise hebt dann an mit dem „Massaker von Ismaros“.

Grundlage für die Aufnahme ist die Übertragung von Johann Heinrich Voß. Thomas erläutert seinen Sprachgebrauch: „Die Verwendung des Wortes ‘Weiber’ war im 18. Jahrhundert nicht abwertend (…) und wird (…) trotz des Wahns politischer ‘Correctness’ zur Verschleierung unangenehmer Tatsachen, weiter verwendet.“

Auf Ismaros werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, aber „Gefährdung des Schiffsverkehrs“ wegen Trunkenheit am Steuer nach der weiteren Flucht kann ausgeschlossen werden. Ebenso Jagdwilderei bei den Kyklopen, da es dort keinen Jagdberechtigten gab: „Und nie scheuchet sie dort ein spürender Jäger, der mühsam/ Sich durch den Forst arbeitet, und steile Felsen erklimmt.“

Den Verzehr der Käse des Polyphemos ohne dessen Einwilligung als Bandendiebstahl zu bewerten, verwirft Thomas nach eingehender Prüfung der Umstände. Ist nun der Kyklop ein Halbgott, ein gesunder oder behinderter Mensch, Homo sapiens oder nicht? Weitläufig wird die Einäugigkeit ergründet und dabei gefragt, ob es sich um einen erblichen Defekt oder die Folge einer Pflanzenvergiftung seiner schwangeren Mutter handelt, die zu Fehlbildungen des Embryos führte.

Ein Verbotsirrtum wird erwogen, der Odysseus entlastet hätte. Wenn er Polyphem nicht als Menschen empfunden hätte, könnte er wegen des Analogieverbots des Strafrechts für die Gewalttat nicht verurteilt werden. Diese Exemplifizierung wird ausgeweitet bis auf Goethes Homunculus im „Faust II“, um schließlich festzustellen, daß selbst der biologische Laie Odysseus erkennen mußte, daß „sein Gegner überwältigend viele menschliche Merkmale aufwies“.

Zuletzt atmet der Leser richtig auf, als er vernehmen darf: Odysseus hat die schwere und gefährliche Körperverletzung aus einer Notwehr und Nothilfesituation begangen, die tatsächlich so dramatisch und drastisch war, daß ihm keine andere Wahl als die Blendung blieb.“

Die Untersuchungen zu Fauna und Flora der bereisten Gebiete gehören zum schönsten Teil des Buches, welches in dieser Hinsicht einem Verlag zur Ehre gereicht, in dem auch die „Neue Brehm-Bücherei“ erscheint. Nur wenn der Autor vorrechnet, daß eine Ausflaggung nach Deutschland seinerzeit für Odysseus kostensparend gewesen wäre, erniedrigt sich der gehobene Geist dieses Buches in den Kalauer.

Thomas’ Untersuchung mündet in die erwartbare Urteilsfindung: „Odysseus dürfte im Strafprozeß eine lebenslange Freiheitsstrafe erhalten. Daneben dürfte das Gericht die anschließende Sicherungsverwahrung anordnen, da er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich solchen, die die Opfer seelisch und körperlich schwer schädigen, für die Allgemeinheit gefährlich ist.“

Wäre es zur Verurteilung gekommen hätte Odysseus im Vollzug seine Memoiren verfassen können und möglicherweise Homer korrigiert. Aber ein Mann von dieser Gefährlichkeit würde nicht lebendig nach Den Haag überstellt. Wahrscheinlich würden die fortschrittlichen Staaten heute den Lotophagen, Kyklopen und Phäaken reichlich Waffen liefern, und der schurkische Ithaker würde nach kräftigen Tumulten zur Strecke gebracht werden, neben den zugerichteten Leichnamen von Mussolini, Ceaușescu, Hussein, Bin Laden und Gaddafi.

Doch man wird seiner nicht mehr habhaft, und so wirkt er mit dem Mythos fort. Vielleicht aber weckt diese geistreiche Sekundärliteratur den Durst nach der homerischen Quelle in ihrer schönen deutschen Einfassung durch Johann Heinrich Voß.

Klaus Thomas: Odysseus – Daimon oder Heros? Verlags KG Wolf, Magdeburg 2013, broschiert, 218 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro

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