© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Auf der Jagd nach Wildpferden
Frühmenschen: Das Paläon in Niedersachsen beherbergt mit den Schöninger Speeren die ältesten Jagdwaffen der Welt
Karlheinz Weissmann

Wenn man den Hauptraum des Ausstellungsbereichs im neuen Paläon, nahe der niedersächsischen Kleinstadt Schöningen, betritt, fällt der Blick sofort auf einen hockenden Frühmenschen, der in Hamlet-Manier einen Pferdeschädel hochhält, darüber ein lebensgroßes, steigendes Pferd in expressiver Gestaltung. Dargestellt ist Homo erectus beziehungsweise dessen Variante, der Homo heidelbergensis, der vor etwa 400.000 Jahren unseren Kontinent besiedelt hat.

Lange Zeit glaubte man, es habe sich um ein eher äffisches, kaum menschliches Wesen gehandelt, das weder sprechen konnte, noch komplexe soziale Gebilde zu schaffen wußte. Diese Einschätzungen sind jetzt korrigiert.

Das ist wesentlich deutschen Archäologen zu verdanken, die infolge des Braunkohletagebaus nahe Schöningen zwischen 1994 und 1998 eine Reihe erstaunlicher Funde machten. Dazu zählten vor allem Überreste eines Jagdlagers mit zahllosen Pferdeskeletten, die offenbar erbeuteten Tieren gehörten, ein Pferdeschädel, von dem man annehmen kann, daß er im Rahmen einer Opferhandlung kultisch bestattet wurde, verschiedene hölzerne Gegenstände, Klemmschäfte, das heißt gespaltene Holzstücke, die als Halterung für Steinklingen dienten, wahrscheinlich der früheste Hinweis auf Kompositwerkzeuge, sowie acht hölzerne Speere – die seitdem so genannten Schöninger Speere – die ältesten vollständig erhaltenen Jagdwaffen überhaupt.

Daß sich die Artefakte erhalten haben, war nur einer Reihe außergewöhnlich günstiger Umstände zu verdanken. Sie erlauben in jedem Fall den Schluß, daß der Homo heidelbergensis bereits in der Lage gewesen sein muß, koordiniert vorzugehen, wenn es etwa um die Bildung einer Jagdgruppe ging, die die Wildpferdherde verfolgte, ihr in sumpfigem Gelände auflauerte und einzelne Tiere dann dort tötete. Der betriebene Aufwand ist außerdem ein Indiz dafür, daß er über eine Sprache verfügt haben muß. Ohne das Vorhandensein dieser Fähigkeit ist auch die Fertigung der Speere kaum vorstellbar. Sie bilden das eigentliche Zentrum des Paläons.

In einer Vitrine untergebracht, ohne jede spektakuläre Inszenierung, wirken sie fast unscheinbar. Sieben Stangen aus Fichten-, eine aus Kiefernholz, zwischen 1,80 und 2,50 Meter fünfzig lang, an den Enden in haarnadelfeine Spitzen auslaufend, die man im Feuer gehärtet hat. Bedenkt man aber, daß jede dieser Waffen für einen Mann speziell gefertigt wurde, seiner Wurfkraft und Körpergröße angemessen, daß sie über eine Distanz von siebzig Metern geschleudert werden konnten und dem Vergleich mit der Leistungsfähigkeit eines modernen Wettkampfspeers standhalten, versteht man, warum die Ausgrabung bei Schöningen Archäologen und Anthropologen elektrisierte: Hier hatte man den sinnfälligen Beweis dafür, daß die geistige Entwicklung des Menschen sehr viel weiter zurückreicht als gemeinhin angenommen, bis in die Altsteinzeit jedenfalls, und daß die Frühmenschen dem Jetztmenschen wesentlich ähnlicher waren als vermutet.

Das Paläon soll ein „Leuchtturmprojekt“ sein, das heißt, es gehört zu jener wachsenden Zahl großer regionaler Museen, die man in der Nähe der ursprünglichen Grabungsorte errichtet, anstatt die Funde in zentrale Sammlungen zu überführen. Der Aufwand ist immens, das Gebäude mit seinen großen, verspiegelten Fronten für sich genommen schon eindrucksvoll. Das Paläon beherbergt aber nicht nur die wichtigen Stücke, die bei Schöningen geborgen wurden, sondern auch eine umfangreiche Darstellung zur Erdgeschichte und zur menschlichen Evolution, und ist – den Erfordernissen des modernen Infotainment entsprechend – mit einem Außenareal versehen, das auch ein Gehege für vier Exemplare der Przewalski-Pferde beherbergt, die in ihrer äußeren Gestalt den Tieren nahekommen, die der Homo heidelbergensis gejagt und erlegt hat und deren Geist er vielleicht Abbitte leistete, wie mit der eingangs erwähnten Installation angedeutet.

Info: Das Paläon in Schöningen ist täglich außer montags von 9 bis 17 Uhr, Do. bis 20 Uhr, Sa./So. von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet 9,50 Euro (ermäßigt 6 Euro). Telefon: 0 53 52 / 9 69 14-0

www.palaeon.de

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