© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/14 / 18. April 2014

Ostern und das Kreuz
In der Pluralismusfalle
Gernot Facius

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, er ruht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte, hat um das Jahr 1800 den Theologen die Leviten gelesen: „Sie predigen ja überhaupt nicht mehr das konkrete Wort Gottes. Da bleibt eigentlich nur noch Wüste.“ Das Zitat taugt auch für unsere Zeit mit ihrer Pluralität von Gottesvorstellungen. Der biblische Glaube, sagt etwa der Heidelberger evangelische Neutestamentler Gerd Theißen, sei unverrückbar „polyphon“. Diese Polyphonie oder Vielfalt schütze davor, Gott auf ein einziges Bild festzulegen, das dann zum für alle Zeiten verbindlichen und wahren Bild für alle Menschen erklärt werde.

Universitätstheologen geht dies flott von den Lippen, das Kirchenvolk stürzen sie allerdings in Verwirrung und Unsicherheit. Seit langem wogt der Streit über den Sinn des Kreuzesopfers, er offenbart immer mehr die Zerrissenheit in Glaubensfragen; in den reformatorischen Kirchen geht der Riß tiefer als bei den Katholiken. Gewiß, daß Jesus Christus am Marterholz gestorben ist, wird nicht geleugnet, auf Widerspruch stößt hingegen, daß er stellvertretend für die Sünden der Menschen sein Leben hingegeben habe.

„Wer den Sühnetod Jesu in Frage stellt, daß Christus für unsere Sünden den Kreuzestod auf sich nahm, stellt das biblische Zeugnis vom Kreuz Jesu in Frage. Das Kreuz und seine seligmachende Botschaft muß Mittelpunkt in der Kirche sein, sonst hört sie auf, Kirche zu sein.“

Sühneopfer oder einfach nur „Symbol der Solidarität“ Gottes? Um diese Frage kreist die Debatte jedes Jahr aufs neue zur Passions- und Osterzeit. Ausgelöst wurde sie 2008 durch eine WDR-Rundfunkpredigt des ehemaligen Bonner Superintendenten Burk­hard Müller: „Was wäre das für ein grausamer Gott, der ein Menschenopfer braucht, um seinen Zorn zu stillen? Diese Sache wird noch unappetitlicher, wenn dieser Mensch sein einziger Sohn ist.“ Empörte Gläubige drohten mit Kirchenaustritt, es sei eine „Irrlehre“ verbreitet worden, ein protestantischer Geistlicher appellierte an den Bonner Theologieprofessor Ulrich Eibach: „Kämpfen Sie! Sonst können wir den Karfreitag abschaffen.“

Und der Professor nahm den Kampf auf – auch gegen den damaligen rheinischen Präses und derzeitigen EKD-Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider. Der Kreuzestod, hatte Schneider im evangelischen Magazin Chrismon zu Protokoll gegeben, lasse sich unterschiedlich interpretieren. Darauf Eibach: Bei soviel Pluralität bringe sich die Kirche um „fast jede Lehrkompetenz“. Noch schärfer argumentierte der lutherische Pastor Ulrich Rüß, Vorsitzender der Konferenz Bekennender Gemeinschaften in den evangelischen Kirchen Deutschlands: „Wer den Sühnetod Jesu in Frage stellt, daß Christus für unsere Sünden den Kreuzestod auf sich nahm, stellt das biblische Zeugnis vom Kreuz Jesu in Frage (...) Wenn er nicht mehr sagen kann, daß Christus für unsere Sünde am Kreuz gestorben ist, entfernt er sich von der Mitte des Glaubens (...) Das Kreuz und seine seligmachende Botschaft muß Mittelpunkt in der Kirche sein, ansonsten hört sie auf, Kirche zu sein.“

Die geistigen Erben von Martin Luther und Johannes Calvin wieder einmal in der Pluralismusfalle? Ignorieren sie, was Paulus im Römerbrief ausführt? Dort schreibt der Apostel über Jesus: „Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, daß er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus (…) So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“

Ein sperriger Text, das wohl, aber er steht in einem unauflösbaren Zusammenhang mit der für den Protestantismus entscheidenden Rechtfertigungstheologie. Wer sich davon entfernt, gerät schnell in den Verdacht, sich von einer Kernbotschaft des Christentums zu distanzieren; so sehen das vor allem die Evangelikalen. Und ganz nebenbei: Wie kann man noch andächtig Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion folgen, wenn der Sühnetod geleugnet wird, enthält doch der Choral „O Lamm Gottes unschuldig“ die Zeilen „All Sünd’ hast du getragen, sonst müßten wir verzagen.“ Darauf wissen die Modernisten bis heute keine Antwort.

Die Evangelische Kirche im Rheinland, zweitgrößte Gliedkirche der EKD, suchte sich mit einem pragmatischen Kompromiß aus der Sache herauszuwinden und damit die Kritiker zufriedenzustellen. Sie legte eine „Orientierungshilfe“ auf, die auf 50 Seiten der Intention von Schneider folgte: Die rheinischen Pfarrer seien frei, den Kreuzestod Jesu unterschiedlich zu deuten, sofern sie sich dabei im biblischen Rahmen bewegen; Gott brauche kein Sühneopfer, „denn es muß ja nicht sein Zorn durch unschuldiges Leiden besänftigt werden“. Jede Seite, so meinte man, könne aus dem Papier das für sie Passende herauslesen. Zum einen wird zwar bekräftigt, daß der Tod Jesu „uns rettet“ und daß am Kreuz tatsächlich Heilbringendes geschehen sei. Zum andern lautet die Antwort auf die Frage, ob der Tod Jesu ein Sühneopfer gewesen sei: „Er war es nicht.“ These wird gegen These gestellt. Was als „Orientierungshilfe ausgegeben wird, bietet bei Licht besehen wenig Orientierung. Die Ablehnung des Sühnetodglaubens gilt als legitim. Der Dauerstreit wird etwas gedämpft, aus der Welt geschafft ist der Dissens nicht.

Man hat es wieder mit kirchenpolitischer Kosmetik zu tun. Zu Recht warnen zwei renommierte evangelische Theologieprofessoren, Heinzpeter Hempelmann (Stuttgart) und Michael Herbst (Greifswald), in ihrem Buch „Vom gekreuzigten Gott reden“ davor, das Karfreitagsgeschehen zum Gegenstand subjektiver Interpretationen zu machen. Sie grenzen sich von ihrem Zunftkollegen Klaus-Peter Jörns ab, der die Sühneopfer-Deutung auf den alten jüdischen Opferkult zurückführte. Die Vergebung, die Jesus den Menschen zusprach, leite sich ganz von der Liebe Gottes ab, schrieb Jörns. Gottes Liebe sei bedingungslos, ihre Bindung an Jesu Tod mache sie aber wieder zu etwas Bedingtem. Die Botschaft werde somit auf den Kopf gestellt. „Jesus hat für uns gelebt“ steht hier gegen „Jesus ist für uns gestorben“.

Gott ist die Liebe – so verteidigen die Sühnetod-Kritiker ihre Position. Ein zu dünnes Argument, urteilte der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger 2009 in der JUNGEN FREIHEIT (JF 16/09): „Wenn Gott nur noch reine Liebe ist, dann kann man die Welt nicht mehr in Zusammenhang mit ihm bringen, und das eigene menschliche Wesen schon gar nicht.“ Gott auf eine pauschale Formel zu reduzieren, führe zur Vorstellung, „daß Sühne nicht mehr nötig ist. Man kann machen, was man will, Gottes Liebe ist so groß, daß er sowieso alles vergibt. Gebote, Reue, Verantwortung braucht man dann nicht mehr.“ Das enthemmte Individuum habe freie Bahn. „Gott ist dann wie eine Summe von Sofakissen.“ Dann nähert man sich einer Infantilisierung des Christlichen. Das Evangelium wird zu einer „ganz einfachen, letztlich banalen Allerweltsbotschaft von einem Wohlfühlgott“ (Friedrich Wilhelm Graf in „Kirchendämmerung“).

Anders gesagt: Die Unsicherheit im Umgang mit der Heiligen Schrift, mit Kernsätzen des Glaubens, ist geradezu zur Berufskrankheit der Theologen beider großer Kirchen geworden.

Es ist nicht verborgen geblieben, daß auch römisch-katholische Exegeten und Amtsträger ihre Not mit der Deutung von Jesu Tod am Kreuz haben. Der im März 2014 verstorbene Münchner Theologe Eugen Biser argumentierte ganz im Sinne der Protestanten Schneider, Jörns und Müller, ein Gott der bedingungslosen Liebe werde durch Opfer nicht versöhnt, „ganz davon zu schweigen, daß er gar kein Opfer will“. Und just am Karsamstag 2009 wurde der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, im Hessischen Fernsehen gefragt, ob Jesus Christus tatsächlich stellvertretend für die Sünden der Menschen gestorben sei. Zollitsch: „Nein.“ Gott brauche kein „Sündopfer“, er habe seinen Sohn „in Solidarität mit uns bis in die letzte Todesnot hineingelassen, um zu zeigen: So viel seid ihr mir wert. Ich gehe mit euch, ich bin ganz bei euch in jeder Situation.“

Papst Franziskus hat schon am Palmsonntag 2013, nur wenige Wochen nach seiner Wahl, bekräftigt, Jesus habe für „unser aller Sünde“ das Kreuz auf sich genommen. Man kann das durchaus als Mahnung an die Zweifler in Deutschland verstehen.

Es half Zollitsch nicht, daß er dem Interview später ein Nachwort hinterherschickte: „Der christliche Glaube scheut sich nicht, sogar noch dem Tod des Herrn eine positive, heilsvermittelnde und sühnende Bedeutung zuzuschreiben.“ Dogmatiker aus der Pius-Bruderschaft, aber nicht nur sie, bezichtigten ihn der Irrlehre. Auch aus der Mitte seiner Kirche hagelte es Kritik. In der römischen Glaubenskongregation zeigte man sich irritiert.

Papst Franziskus hat im übrigen schon am Palmsonntag 2013, nur wenige Wochen nach seiner Wahl, bekräftigt, Jesus habe für „unser aller Sünde“ das Kreuz auf sich genommen. Man kann das durchaus als Mahnung an die Zweifler in Deutschland verstehen. Der Pontifex verwies auf das Jesus-Buch seines Vorgängers Benedikt XVI. Im zweiten Teil dieses Werkes, 2011 erschienen, hat das emeritierte Kirchen­oberhaupt das schwierige Thema offensiv angepackt: Warum hat Gott zur Erlösung des Menschengeschlechts seinen Sohn am Kreuz sterben lassen? Ist dieser Sühnetod den Christen von heute noch vermittelbar? Ist es nicht ein grausamer Gott, der unendlich Sühne verlangt? Ist dies nicht eine Gottes unwürdige Vorstellung? Benedikt antwortet: „Die Realität des Bösen, des Unrechts, das die Welt entstellt und zugleich das Bild Gottes verschmutzt – diese Realität ist da, durch unsere Schuld. Sie kann nicht ignoriert, sie muß aufgearbeitet werden.“ Nun, so Joseph Ratzinger, werde aber nicht etwa durch einen grausamen Gott Unendliches verlangt, es sei genau umgekehrt: „Gott richtet sich als Ort der Versöhnung auf und nimmt das Leid in seinem Sohn auf sich.“

Freilich räumt auch Benedikt Grenzen des Verstehens ein: „Das Dunkel, die Unlogik der Sünde und die für unsere Augen übergroße Helligkeit Gottes treffen sich im Kreuz, und das übersteigt unsere Logik.“ Das Geheimnis der Sühne dürfe keinem besserwisserischen Rationalismus geopfert werden.

Was, wie der Dauerdisput über den Sühnetod zeigt, fortwährend geschieht. In einem Streitgespräch mit seinem liberalen Kollegen Wilhelm Gräb hat der evangelikale Theologe Helge Stadelmann sich optimistisch gegeben: „Wir werden einen verstärkten Wettbewerb erleben. Auf der einen Seite stehen die Kirchen, die klar benennen, daß der Kreuzestod Jesu als Sühne für unsere Sünden geschah und daß er wahrhaftig auferstanden ist. Auf der anderen Seite stehen jene, die von dieser traditionellen Sicht Abschied nehmen und die Auferstehung nur als psychologischen Vorgang deuten. Erstere sind weltweit die wachsenden Kirchen, die zweite Gruppe predigt dagegen die Kirchen leer.“ (Idea-Spektrum, 9/2014)

 

Gernot Facius, Jahrgang 1942, war stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt. Er arbeitet heute als freier Journalist. Facius ist seit 25 Jahren Mitglied der Gesellschaft Katholischer Publizisten (GKP). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über christliche Feste, die in der Gegenwart unter Rechtfertigungsdruck geraten („Die Sehnsucht bleibt“, JF 52/13–1/14).

Foto: Kruzifix: Symbolische Solidarität mit menschlichem Leid oder Jesu Sühneopfer für unsere Sünden?

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