© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/14 / 25. April 2014

Eine Strömung, die uns trägt
Sprache war für ihn der Lebensatem der Welt: William Shakespeare und der deutsche Geist
Sebastian Hennig

Die Begegnung mit William Shakespeares Werk vollzog sich in Deutschland auf gewundenen Pfaden. Diese entsprachen zugleich dem Weg der Selbsterkenntnis des deutschen Geistes. Den Höhepunkt markiert die Nachdichtung der Romantiker August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck. Wobei es ungewiß bleiben muß, ob Shakespeare durch sie romantisiert wurde oder vielmehr die Romantik selbst nichts anderes ist als das Erwachsen der deutschen Dichtung aus dem Geiste Shakespeares.

Eine Initiation für diesen Ausgang war die väterliche Freundschaft des Königsberger Philosophen Johann Georg Hamann zum jugendlichen Johann Gottfried Herder. Karoline Herder beschrieb später jene Ereignisse, die ihren Gatten formten: „Hamann lehrte ihn das Englische; sie fingen mit Shakespeares Hamlet an. Unvergeßlich und heilig blieb ihm der Eindruck, den diese Stunden ihm gemacht, er sprach oft mit Rührung davon, den Hamlet konnte er beinahe auswendig, und unter allen dramatischen Dichtern hielt er immer Shakespearen am höchsten.“

In seiner ersten Schrift „Sokratische Denkwürdigkeiten“ (1759) hatte Hamann geschrieben: „Was ersetzt bei Homer die Unwissenheit der Kunstregeln, die bei Aristoteles nach ihm erdacht, und was bei einem Shakespeare die Unwissenheit oder Übertretung jener kritischen Gesetze? Das Genie, ist die einmütige Antwort.“

Genie lautet der Signalruf für die Stürmer und Dränger, für Jakob Michael Reinhold Lenz, August von Klinger und Goethe. Der Student Goethe wird 1770 in Straßburg von Herder auf Hamanns Geistesrichtung eingestimmt, die bis zu seinem Tod 1832 auch die seine wird.

Einbruch der Sprachmagie in die deutsche Dichtung

Shakespeare war schon populär, bevor man eigentlich von ihm wußte. Reisende englische Komödianten vermittelten Bruchstücke der ritterlichen Kultur, die im von Religionskriegen zerrütteten protestantischen Milieu der deutschen Länder auf durstigen Grund fielen. Einerseits wurden Faxen, Tänze, Sprünge und Fratzen verlangt, andererseits ließ der vielseitig interessierte Landgraf Moritz von Hessen-Kassel seine eigenen ungehobelten Verse ins Englische übertragen, weil er sich davon eine Bedeutungssteigerung im Sinne des bewunderten Vorbildes versprach.

Ohne das Original recht zu kennen bearbeitete der Barockdichter Andreas Gryphius die Rüpelkomödie aus „Ein Sommernachtstraum“ zu seiner „Absurda Comica oder Herr Peter Squenz“ (1657). Bereits durch diesen fadenscheinigen Stoff funkelt das Genie des großen Vorbildes. Ein Jahrhundert später hatte noch Lessing nur oberflächliche Kenntnis von Shakespeare. Gleichwohl beruft er sich in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ (1769) auf dessen Genie, wenn er eine Abkehr von der Ziererei des französischen Klassizismus fordert.

Die andere Art von Ritterlichkeit, als jene des affektierten Chevaliers, fand man beim stolzen spanischen Hidalgo oder dem freien englischen Lord. Cervantes, Calderon und Shakespeare werden Wegweiser zum Eigenen. Lessing bekennt von sich: „… so würde mir die unsinnigste Abwechslung von Niedrig auf Groß, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf Weiß willkommener seyn, als die kalte Einförmigkeit, durch die mich der gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armseligkeiten mehr heißen, unfehlbar einschläfert.“

Lessing sieht in der Sprache nicht viel mehr als ein Ausdrucksmittel für

Ideen. Shakespeare dagegen ist sie ein Element, der Lebensatem der Welt selbst. Der Germanist Friedrich Gundolf beschreibt in seiner Abhandlung „Shakespeare und der deutsche Geist“ (1911), wie Lessing ungewollt den Einbruch der Shakespeareschen Sprachmagie in die deutsche Dichtung bewirkt: „Er wollte mit Shakespeare das Reich der Vernunft erweitern, nicht neue Lebensfluten entfesseln. (…) Lessings Vers ist eine Treppe, auf der wir steigen müssen, die uns sicher von Stufe zu Stufe führt, Shakespeares Vers eine Strömung, die uns trägt. Lessing veranlaßt uns zu einer bewußten Bewegung, Shakespeare macht uns selbst zur Bewegung.“

Lessing empfiehlt die Emanzipation vom Zeitgeist, wenn er schreibt: „... freilich ist der Saft aus den französischen Romanen lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr Gebiß schärfer und ihr Magen stärker geworden, wenn sie indeß Deutsch gelernt haben, so kommen sie auch wohl einmal über den – Agathon.“

Christoph Martin Wieland bemerkt in seinem heute noch faszinierenden Roman „Agathon“ (1767) an einer Stelle, die auch Lessing in diesem Zusammenhang zitiert: „Man tadelt an Shakespeare, – demjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom König bis zum Bettler, und von Julius Cäsar bis zu Jak Falstaff, am besten gekannt, und mit einer Art von unbegreiflicher Intuition durch und durch gesehen hat, – daß seine Stücke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften unregelmäßigen und schlecht ausgesonnenen Plan haben; daß komisches und tragisches darin auf die seltsamste Art durch einander geworfen ist, und oft dieselbe Person, die uns durch die rührende Sprache der Natur Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgend einen seltsamen Einfall oder barokischen Ausdruck ihrer Empfindungen, wo nicht zu lachen macht, doch dergestalt abkühlt, daß es hernach sehr schwer wird, uns wieder in die Fassung zu setzen, worin er uns haben möchte.“

Friedrich Gundolf schreibt über dieses Verhältnis des elegantesten Erzählers deutscher Sprache zum Kraftgenie William Shakespeare: „Wo Wieland versagte, wo er nicht erhellen konnte, war es nicht seine Vernunft, die rebellierte, sondern seine Nerven.“ Bereits 1762 bis 1766 erschien Wielands Übertragung in acht Bänden. Jean Pauls legte seine berühmte Abrechnung mit dem Nihilismus des Zeitalters „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab“ zunächst Shakespeare in den Mund. Den Anruf „Ist kein Gott?“ beantwortet er: „Es ist keiner!“ Verstorbene Kinder steigen aus den Gräbern und fragen: „... haben wir keinen Vater?“ Ihnen wird die Antwort zuteil: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“ Die Erde erweist sich als ein „starres, stummes Nichts, kalte, ewige Notwendigkeit, wahnsinniger Zufall“. Es gibt „keinen Morgen und keine heilende Hand“. Erst nach dem träumenden Durchgang durch dieses Schrecklichste färbt sich die Welt wieder ein.

Abgründe erkunden und sie der Gestaltung unterwerfen

Damit bezeichnen Jean Paul und die Romantiker mit ihrem Gemüt das Gegenteil von larmoyanter Gefühlsseligkeit. Während bei Shakespeare die Darstellung des Grauenhaften dieses bannt, tönen die Jakobiner honigsüß vom Humanismus und beschneiden den Menschen ihre Rechte um Kopfeslänge mit dem Fallbeil. Der Shakespearesche Geist bedeutet, Abgründe zu erkunden und sie der Gestaltung zu unterwerfen.

Der heutige Zeitgeist muß gemessen werden an seiner Kraft zur Selbstbegegnung. Und wenn die Theater den Zugang zu diesen Werken mit Spektakel umlärmen, mit Psychologie vernebeln, seine Metrik in Prosa verwandeln und seine Rhetorik in Geplapper, dann zeugt das vor allem von Angst vor der Wirklichkeit. Shakespeare ist damit wieder in die Hände der Possenreißer gefallen, aus denen er vor vier Jahrhunderten zu uns gelangte.

 

William Shakespeare

Der Dramatiker und Lyriker William Shakespeare (1564–1616), in Stratford-upon-Avon nahe Birmingham geboren, entstammte mütterlicherseits einer wohlhabenden Familie. Weite Teile seiner Biographie sind jedoch nur lückenhaft dokumentiert. Sicher ist, daß seine Theaterstücke zu den meistaufgeführten Bühnenwerken zählen. Die Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins weist ihn für die zuletzt ermittelte Spielzeit 2011/2012 auf Platz eins mit 1.898 Aufführungen und 156 Inszenierungen aus. Auf dem zweiten Platz folgen in riesigem Abstand die Brüder Grimm mit 1.130 Aufführungen und 61 Inszenierungen. Erst danach kommen Heinrich von Kleist und Goethe. Unter den zwanzig Schauspielwerken mit den höchsten Inszenierungs- sowie Aufführungs- und Besucherzahlen findet sich nach dieser Statistik des Bühnenvereins Shakespeare mit vier Stücken in dieser Reihenfolge wieder: „Ein Sommernachtstraum“, „Romeo und Julia“, „Hamlet“ und „Was ihr wollt“.

Insgesamt sind von Shakespeare 38 Dramen und epische Versdichtungen sowie eine Sammlung von 154 Sonetten überliefert. Hierzulande kümmert sich unter anderem die 1864 in Weimar gegründete Deutsche Shakespeare-Gesellschaft um die Pflege und Förderung seines Werkes. Sie veranstaltet dazu Tagungen und verantwortet diverse Online- und Printpublikationen, darunter das Shakespeare-Jahrbuch. Nach eigen Angaben zählt sie etwa 2.000 Mitglieder.

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