© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/14 / 25. April 2014

Pädagogische Umerziehung
Schul- und Universitätswesen: Vor 50 Jahren löste Georg Pichts Diagnose der „Bildungskatastrophe“ eine lebhafte Debatte aus
Felix Dirsch

Es begann mit einer Artikelserie im Februar und März 1964 in der Zeitung Christ und Welt. Die Beiträge des Altphilologen, Philosophen und Pädagogen Georg Picht zur „Bildungskatastrophe“ trafen den Nerv der Zeit, riefen schnell eine Flut von Stellungnahmen hervor und waren maßgeblich mitverantwortlich für die großen Bildungsreformen der sechziger und siebziger Jahre.

Der Rundumschlag gegen das seinerzeitige Bildungssystem erregte die Gemüter. Picht beschrieb seinen Zustand als morsch und marode. Keine Rede davon, daß damals nicht nur der Name Humboldt hoch im Kurs stand, sondern viele Bestandteile des deutschen Schul- und Hochschulwesens noch ein weltweiter Exportschlager waren. Picht betonte immer wieder in regelmäßiger Einseitigkeit die Kluft zwischen dem aufstrebenden Wirtschaftswunderland und seinem hoffnungslos hinterherhinkenden Schul- und Universitätswesen.

Humboldt redivivus beabsichtigte, den Standort Deutschland durch ein deutlich verbessertes Bildungswesen zukunftsfähig zu machen. Daß man durch falschen Egalitarismus vieles noch schlechter machen konnte, lag außerhalb seines Horizonts. Einen Mangel machte Picht vor allem in den Lehrerbildungsanstalten aus. Einprägsam formulierte er: Selbst wenn jeder Abiturient den Lehrerberuf ergriffe, gäbe es in zehn Jahren noch zu wenige Pädagogen. Die mitgelieferten Zahlen erschienen als ausreichender Beleg. Dieses Manko mutete besonders erschreckend an, wußte doch jeder, daß die Gesellschaft auch qualifizierte Juristen, Ärzte, Ingenieure und andere Akademiker benötigte.

Bereits an dieser Stelle zeigt sich indessen eine Schwierigkeit, die Picht kaum realisierte. Die von dem notorischen Weckrufer forcierte Tendenz, vorhandene Bildungskapazitäten quantitativ aufzublähen, wie es im Zuge eines wachsenden Wohlstandes danach in relativ kurzer Zeit geschehen ist, brachte an vielen Stellen nur wenige qualitative Verbesserungen. Stattdessen kam es zu einer inflationären Steigerung der Anzahl von Abschlüssen, die freilich mehr und mehr an Niveau einbüßten. Noch nie gab es, quasi am Ende der Fahnenstange, so viele Einser-Abiturienten wie heute. Allerdings sind die gemessenen Fähigkeiten derjenigen, die die Bestnote erzielen, tendenziell geringer denn je.

Freilich wäre es falsch, alle Reform-ansätze zu verwerfen. Auch die meisten konservativen Beobachter, etwa der seinerzeit junge Bildungspolitiker und spätere bayerische Kultusminister Hans Maier, zweifelten nicht an der Notwendigkeit punktueller Veränderungen. Später beklagte Maier jedoch, daß das Kind oft mit dem Bade ausgeschüttet worden sei.

Pichts Schadensfolgen sind heute zu besichtigen

Etliche Märchen, die Picht in die Welt gesetzt hat, werden auch in der Gegenwart unablässig wiederholt. So lautet einer der immer wieder zu hörenden Vorwürfe: Das deutsche Schulwesen selektiere zu früh und verfestige somit den sozialen Status der Eltern. Daß Auswahlmöglichkeiten im gegliederten Schulwesen aber auch Wettbewerb bedeuten und so in toto eine Leistungsverbesserung erreicht wird, taucht in der Diskussion selten auf. Die negative Wertung von Selektion war nicht neu und wurde schon von den Besatzungsmächten nach Kriegsende erhoben. Freilich konnte die Reeducation in Westdeutschland gegen die Widerstände der Bevölkerung keinen grundlegenden Wandel herbeiführen. Erst mußte die Umerziehung zum Selbstläufer werden, damit derartige Vorstellungen Breitenwirkung erhielten.

Einige von Pichts Erben geben schon einige Zeit zu bedenken, daß der Hiatus von bildungsnahen und -fernen Schichten seit etwa zwei Jahrzehnten wieder zunehme, nachdem vorher Egalisierungsprozesse festgestellt werden konnten. Häufig werden jedoch die wahren Ursachen für diesen Trend verschwiegen. Der Grund für eine solche Entwicklung ist einerseits in sozialstaatlich bewirkten Umverteilungsprozessen zu suchen, andererseits in den Folgen unkontrollierter Zuwanderungsströme, die für eine neue Unterschichtung sorgen. In der heutigen „Begabungsreserve“ heißt es nur noch selten: Mein Kind soll es einmal besser haben! Vielmehr verkündet der Nachwuchs öfter: Ich werde Hartz-IV!

Der Alarmismus des 68er-Vordenkers Picht ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Die Schadensfolgen seiner Grundannahme, wonach die Idee der Gerechtigkeit durch Gleichheit verwirklicht werde, sind heute auf nahezu allen Ebenen zu besichtigen.

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