© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/14 / 25. April 2014

Ukraine: Selbstbehauptung einer Nation
Mutig und freiheitsliebend
Karlheinz Weißmann

Im Sommer 1977 veröffentlichte der ukrainische Samisdat ein „Memorandum Nr. 5“. Darin hieß es: „Der Wille der Nation strebt nach Freiheit und Identität, nach Selbstverwirklichung in Unabhängigkeit. Doch die Hüter des Imperialismus wollen dies nicht zulassen, sie konservieren die unerträgliche Lage des Volkes, das wirtschaftliche und geistige Joch. So ist es auch mit der Ukraine, die trotz ihres Potentials an Freiheitsliebe, Mut, kulturellen Schätzen und Bodenschätzen in Schicksalsstunden der Geschichte ihre Staatlichkeit nicht erneuern konnte und so die Kolonie eines barbarischen Imperiums wurde, dessen Raison dem Willen unseres unterdrückten Volkes diametral entgegengesetzt ist.“

Hinter dem Text stand das Kiewer Helsinki-Komitee, das, nach dem Vorbild ähnlicher Organisationen im Ostblock, die Durchsetzung der Beschlüsse erreichen wollte, die die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in der finnischen Hauptstadt gefaßt hatte. Allerdings ging es den Ukrainern nicht nur um Menschenrechte, Demokratie und Autonomie, sondern um nationale Souveränität: „Wir legen vor unserem Volk den Schwur ab, daß wir vor keiner Repression der Unterdrücker zurückweichen werden. Die Wahrheit steht auf unserer Seite. Die einen sterben als Feiglinge und Verräter, die anderen als treue Kinder der gequälten Mutter, unserer Nation.“

In Europa und den USA fand man dieses Pathos schon vor vier Jahrzehnten befremdend, aber es war kein leeres. Zu den führenden Köpfen der „Ukrainischen Bürgergruppe zur Erfüllung der Helsinki-Abkommen“ gehörte Levko Lukianenko. Sein Werdegang war in vielem typisch für einen Dissidenten: 1927 in der Westukraine geboren, kannte er nichts anderes als die sowjetische Realität, trat der Partei bei und stieg im Justizapparat auf. Bis dahin war Lukianenko linientreuer Marxist, und noch als er 1959 – unter dem Eindruck des „Tauwetters“ – den „Ukrainischen Arbeiter- und Bauernbund“ gründete, erkannte er die sowjetische Verfassung prinzipiell an. Trotzdem traf ihn die Unduldsamkeit der Staatsmacht mit aller Härte: Zum Tode verurteilt, begnadigte man ihn 1961 zu fünfzehn Jahren Lagerhaft. 1976 schwer krank entlassen, aber ungebrochen, bildete er mit wenigen anderen das Helsinki-Komitee, wurde kurz darauf erneut verhaftet, wieder schuldig befunden, zu weiteren zehn Jahren Haft und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Erst die Perestroika erlaubte ihm die Rückkehr in seine Heimat. 1991 verfaßte Lukia­nenko die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine.

Man muß sich gelegentlich den Gang des ukrainischen Unabhängigkeitskampfes in seiner letzten Phase so konkret vor Augen führen, um klarer zu erkennen, daß es im Fall des Krim-Konflikts nicht einfach um Geopolitik, um EU-Mitgliedschaft oder Despotie, um Timoschenko oder Putin geht, sondern auch um die Einschätzung der Frage, welche Kräfte eigentlich die Geschichte bewegen, was der Einsatz des einzelnen bedeutet, was die Opferbereitschaft oder die Überzeugung im Kampf gegen eine übermächtige Ordnung, inwieweit eine Anschauung – hier: der Nationalismus – unter Druck zu einem integralen System werden muß, inwieweit sich die Verhärtungen am Tag „danach“ wieder lockern lassen.

Die Situation der Ukraine ähnelt der anderer Staaten, die nach dem Ende einer Kolonialherrschaft nicht nur ihre Unabhängigkeit verteidigen, sondern auch jene innere Stabilität und Homogenität gewinnen müssen, die eine dauerhafte Existenz voraussetzt.

Von all dem will der Osten nichts wissen, weil der Untergang der Sowjet­union mit einer kollektiven Demütigung verbunden war, dem Verlust eines Imperiums, den die russische Führung bis heute nicht verwunden hat. Davon will der Westen nichts wissen, weil man entweder „Realpolitik“ treibt, das heißt ungestört Geschäfte machen will, oder einen Wertekanon verficht, in dem nationale Identität keine Größe ist.

Die Deutschen schwanken zwischen Empathie für die eine Seite und reflexartigem Anschluß an die andere. Ihnen erscheint die Ukraine wie eine versunkene Insel – lange von Wellen bedeckt, tauchte sie überraschend wieder aus den Fluten auf. Fast jeder hatte vergessen, daß es sie gab, wenige erinnerten sich, und die Erinnerung war dunkel, oft auch unerfreulich. Das erklärt sich aus dem zweimaligen Scheitern des deutschen Versuchs, den „zwischeneuropäischen“ Raum zu ordnen. Als Zwischeneuropa bezeichnete man das Territorium jenseits der deutschen Ost- und diesseits der russischen Westgrenze.

Im Ersten Weltkrieg hatte es nach den großen militärischen Erfolgen gegen das Zarenreich die Überlegung gegeben, das Gebiet nicht nur unter deutsche Kontrolle zu stellen, sondern den dort lebenden Nationen Selbstverwaltung einzuräumen. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Gedanke, daß Polen, Balten und Ukrainer es im Zweifel vorzögen, unter deutscher, nicht unter russischer Hegemonie zu stehen. Zur Ausführung kamen diese Pläne nach dem Scheitern des Friedens von Brest-Litowsk nicht. Die Reorganisation Zwischeneuropas durch die Sieger des Ersten Weltkriegs bot aber keine echte Alternative, sowenig wie die Besetzung der Ukraine durch die polnische und die Rote Armee.

Die Niederlage der ukrainischen Truppen Anfang der 1920er Jahre hatte auch mit der inneren Zerrissenheit des Landes zu tun und dem Fehlen einer autochthonen Elite, die sich wie die polnische unbestritten an die Spitze der Nationalbewegung hätte setzen können. Ironischerweise führte erst die sowjetische Nationalitätenpolitik samt Gründung einer Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu einer konsequenten Ukrainisierung. Trotzdem wurde die Ukraine ein Widerstandsfaktor ersten Ranges innerhalb des kommunistischen Systems. Anders läßt sich der pathologische Haß Stalins nicht erklären und auch nicht sein Versuch, die Bevölkerung durch die Förderung einer massiven russischen Einwanderung zu disziplinieren und schließlich durch teilweise Ausrottung gefügig zu machen.

Die Berichte über den „Holodomor“ – also den Genozid mittels künstlich erzeugter Hungersnot von 1932/33 – gehören zum schrecklichsten, was es an Dokumenten der Unmenschlichkeit im 20. Jahrhundert gibt. Um so erstaunlicher wirkt, daß selbst diese Maßnahmen den ukrainischen Kampfgeist nicht brechen konnten. Das galt für die Bevölkerung selbst, die sich mit letzter Verzweiflung zur Wehr setzte, aber auch für das ukrainische Exil, das zu den aktivsten antikommunistischen Kräften gehörte. In seinen Reihen, aber auch in der von der Wehrmacht 1941 besetzten Ukraine, hoffte man, Deutschland werde in einem weiteren Anlauf nicht nur den Kampf gegen das Sowjetsystem, sondern auch die Schaffung eines ukrainischen Staates stützen.

Diese Erwartung wurde wieder enttäuscht. Der ukrainische Untergrund, der während der letzten Phase des Krieges schon einen Zweifrontenkrieg gegen deutsche wie sowjetische Truppen führte, konnte zwar mit schwächer werdenden Kräften bis in die fünfziger Jahre durchhalten, mußte aber schließlich kapitulieren. In der Ukraine schien Friedhofsruhe einzukehren, aber schon in der Ära Chruschtschow und erneut am Beginn der siebziger Jahre gab es Anzeichen für eine „ukrainische Renaissance“ (Valentin Moros), die faktisch aus dem Scheitern der Sowjetisierung und der Widerstandskraft einer unterdrückten Nation zu erklären war. Beides macht auch das Tempo verständlich, mit dem sich die Ukraine aus der UdSSR löste und den Weg in die Unabhängigkeit einschlug.

Für Deutschland kann es unter den gegebenen Umständen nur darum gehen, seine Position in der Mitte des Kontinents endlich ernst zu nehmen, das heißt auch, an einer Lösung für die Ordnung des zwischen­europäischen Raums zu arbeiten.

Was für den ukrainischen Befreiungsnationalismus die Erfüllung seiner Träume sein mußte, erwies sich aber nicht als Abschluß, sondern als Anfang eines Prozesses, in dem Probleme deutlich wurden, die nur beim Kampf gegen den übermächtigen Feind in den Hintergrund getreten waren. Die Situation der Ukraine ähnelt insofern stark der anderer Staaten, die nach dem Ende einer Kolonialherrschaft nicht nur ihre gerade gewonnene Unabhängigkeit verteidigen, sondern auch jene innere Stabilität und Homogenität gewinnen müssen, die eine dauerhafte Existenz voraussetzt.

Daß das in der Ukraine im notwendigen Maß gelungen ist, wird niemand ernsthaft behaupten. Das Scheitern der „Orangenen Revolution“ von 2004, die wenig überzeugenden Leistungen der Politischen Klasse, die Unfähigkeit, das Ausmaß der Korruption und die wirtschaftlichen Probleme einigermaßen in den Griff zu bekommen und den Spalt zwischen ukrainischer Mehrheit und einer starken russischen Minderheit zu überbrücken, sprechen eine deutliche Sprache. Das politische Chaos, das überhaupt erst den Aufstand gegen Janukowitsch möglich machte, ist darüber hinaus ein Indiz für die konstitutive Schwäche der Institutionen, und das Plebiszit auf der Krim bedeutete, wenn sonst nichts, dann doch, wieviel geschwunden ist von der anfangs überwältigenden Zustimmung zur Unabhängigkeit.

Rußland hat die Schwäche seines Nachbarn ausgenutzt und getan, was man von ihm erwarten durfte: klassische Machtpolitik betrieben. Putin appelliert dabei erfolgreich an das Selbstbewußtsein der Russen als Reichsvolk, aber es ist fraglich, ob er eine konsequente Irredentapolitik betreiben will. An den von ihm geschaffenen Fakten wird der Westen mit den vorgeschlagenen Methoden – Scheckbuch und soft power – nichts ändern.

Das ist kein Anlaß, Entschuldigungen für Putins Handeln zusammenzuklauben, Sowjetnostalgie zu pflegen oder sich an der eigenen Ruchlosigkeit zu ergötzen, indem man kaum verhohlene Bewunderung für die eiserne Faust des Manns im Kreml signalisiert. Aber es gibt eben auch keine Möglichkeit, einen neuen Hitler glaubwürdig zu machen, im Namen der „Weltöffentlichkeit“, des Völkerrechts oder einer romantischen Idee der Brüderlichkeit aller Nationen an die Seite der Ukrainer zu treten. Für Deutschland kann es unter den gegebenen Umständen nur darum gehen, seine Position in der Mitte des Kontinents endlich ernst zu nehmen, das heißt auch an einer Lösung für die Ordnung des zwischeneuropäischen Raums zu arbeiten, oder sich mindestens darüber klarzuwerden, daß es einer solchen Lösung bedarf.

 

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Gymnasiallehrer, Autor und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Staatspolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Ursprung der modernen deutschen Nation („Die Idee von 1813“, JF 19/13).

Foto: Fest steht die Wacht am Dnepr: Rekruten stehen vor einem Bild des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko, dessen volksnahe Lyrik auf den Barrikaden des Maidan rezitiert wurde

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