© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/14 / 25. April 2014

Töten geht nicht mit Maß und Form
Debatte: Robert Spaemann und Bernd Wannenwetsch argumentieren gegen die Sterbehilfe
Hans-Bernhard Wuermeling

Dem Juristen Karl Binding und dem Psychiater Alfred Hoche galt 1920 die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ als so selbstverständlich und gerechtfertigt, daß der Untertitel ihrer folgenschweren Schrift nur noch „Ihr Maß und ihre Form“ zu behandeln versprach. Die Euthanasiemorde im Dritten Reich haben dann grausam gezeigt, daß kein Maß und keine Form das Töten in Grenzen halten konnte, weil seine prinzipielle Rechtfertigung bereits zur Grenzenlosigkeit tendiert.

Heute geht es um die Freigabe der Tötung auf Verlangen. Aber wiederum werden nur Maß und Form diskutiert (gewerbsmäßig oder „privat“) und nicht die Sache selbst, deren grundsätzliche Legitimität stillschweigend vorausgesetzt wird. In ihrer Schrift „Guter schneller Tod?“ behandeln der katholische Philosoph Robert Spaemann und der evangelische Theologe Bernd Wannenwetsch die in der öffentlichen Debatte einfach ausgesparte Grundfrage nach der rechtlichen und moralischen Beurteilung der Mitleids- und Selbsttötung.

Das Tötungsverbot ist dem gläubigen Christen selbstverständlich. Der Theologe kann ihn darin mit seinen Argumenten bestärken, was den überwiegenden Teil des Buches ausmacht. Für den Nichtgläubigen führt der Philosoph Vernunftgründe dafür an, weswegen es in der politischen Debatte zunächst einmal um das „Ob“ und nicht um das „Wie“ der Tötung auf Verlangen, nämlich um ihr rechtliches und sittliches Erlaubtsein gehen muß.

Die hedonistische Grundstimmung der westlichen Welt ist nach Spaemann einer der Gründe für die Forderung nach Sterbehilfe. Vorrangiges Ziel menschlicher Existenz sei es heute, sich zu vergnügen oder wenigstens sich wohl zu fühlen. Daraus folgt nach ihm die Pflicht, die Welt durch Vermehrung angenehmer Gefühle zu optimieren.

Hinzu kommen die gesteigerten Möglichkeiten, Leben durch Apparate zu verlängern. Ihren Einsatz zu unterlassen oder zu beenden, wird aber in jedem Fall mit Töten gleichgesetzt. Eine reine Folgenethik beurteilt nämlich eine jede Handlung nur nach ihren Folgen, in diesem Falle dem Tod. Dagegen beruft sich Spaemann auf das „Normale“, das einem Menschen fraglos geschuldet ist, im Unterschied zu dem Außerordentlichen, das anzuwenden oder zu beenden einer verantwortungsbewußten Entscheidung bedarf: Wer einen Menschen verdursten läßt, weil er ihm nichts zu trinken gibt, tötet ihn, denn Trinken ist normale Bedingung des Lebens. Wer es dagegen unterläßt, einen sehr alten Menschen kurz vor seinem erwarteten Tode in eine Spezialklinik zu fliegen, um sein Leben vielleicht noch ein wenig zu verlängern, ist kein Mörder.

Weiter führt Spaemann aus: Das Recht, auf Verlangen getötet zu werden, wird zumeist aus dem vermeintlichen Recht hergeleitet, sich selbst zu töten. Ein solches Recht entzieht sich aber prinzipiell jeder rechtlichen Normierung. Und sittlich betrachtet hat jeder Versuch, sich von Leiden zu befreien, ein befreites Leben und nicht den Tod zum Ziel. Vielmehr macht gerade der Tod das Ziel befreiten Lebens völlig unmöglich. Rein logisch erscheint deswegen die Selbsttötung in sich als Fehler, der deswegen nicht gutgeheißen werden kann.

Hilflose Antworten auf zunehmenden Hedonismus

Schließlich weist Spaemann auf eine ganz wesentliche Folge hin, die die sittliche Billigung der Selbsttötung und eine Freigabe der Tötung auf Verlangen notwendig nach sich ziehen wird: Der alte, kranke und pflegebedürftige Mensch findet sich dadurch in der Situation, sämtliche Mühen, Kosten und Entbehrungen verantworten zu müssen, die andere für ihn aufzubringen haben. Nicht mehr Schicksal, Sitte oder selbstverständliche Solidarität verlangen dann den Mitmenschen diese Opfer ab, sondern der Pflegebedürftige selbst. Er läßt andere dafür zahlen, daß er selbst zu egoistisch oder zu feige sei, seinen Platz zu räumen. So wird aus dem Recht zum Selbstmord unversehens eine Pflicht. Die moralische Billigung des Selbstmordes und die Legalisierung der Tötung auf Verlangen führen so zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft. Der Leidende wird dann deswegen sein Leben als lebensunwert empfinden.

Eine (falsche) Mitleidshaltung gegenüber unheilbar Kranken wurde im Dritten Reich mit dem Film „Ich klage an“ zum winzigen Auslöser für einen totalen Gesinnungswandel gemacht: Töten wurde akzeptiert, und zwar ohne Maß und Form. Dasselbe vollzieht sich heute in den Niederlanden, wo bereits ein Drittel der „aus Mitleid“ Getöteten nicht mehr auf eigenes Verlangen hin stirbt, sondern aufgrund von Urteilen anderer über ihren Lebensunwert.

Spaemann bezeichnet die Fiktion souveräner Willensentscheidung von Kranken ausgerechnet in der Situation extremer Schwäche schlicht als ein soziales Konstrukt, das mit dem Angebot einer Tötung den infamsten Ausweg bilde, sich der Solidarität mit den Schwächsten zu entziehen. Schließlich erblickt Spaemann auch einen logischen Zusammenhang zwischen dem künstlichen Machen eines Menschen in der Retorte und einem anderen Machen, der künstlichen Lebensverlängerung am Ende – und hält dagegen: „Wenn Menschen nicht von Natur entstünden und von Natur stürben, hätten wir nämlich nie einen hinreichenden Rechtfertigungsgrund, das Leben oder den Tod eines Menschen herbeizuführen.“ Sagen wir es positiv: Weil Menschen von Natur aus entstehen und sterben, darf und muß man weder das Leben noch den Tod künstlich herbeiführen.

Die Forderung, Selbstmord sittlich und Tötung auf Verlangen rechtlich zu billigen, ist maßlos. Doch ist sie die hilflose Antwort auf zunehmenden Hedonismus und eine furchterregende Medizin, der blindwütige Lebensverlängerung nachgesagt wird. Demgegenüber gilt es, dem natürlichen Tod im Leben des Menschen seinen Platz zu lassen. Dazu ist das Maß des Normalen, des Angemessenen, des Verhältnismäßigen zu finden, wozu auch gute Hospizarbeit gehört. Gelingt das nicht, dann liefern wir uns einer Zivilisation des Todes aus. Diese Entwicklung ist schlicht mit reiner Vernunft voraussehbar. Sie kann und muß in einer pluralistischen Gesellschaft mit demokratischen Mitteln verhindert werden. Es ist Robert Spaemann zu danken, daß er dazu die Anstrengung des Denkens der gegenwärtigen oberflächlichen Diskussion entgegensetzt und einfordert.

Robert Spaemann, Bernd Wannenwetsch: Guter schneller Tod? Von der Kunst, menschenwürdig zu sterben. Brunnen- Verlag, Basel 2013, gebunden, 111 Seiten 11,99 Euro

Foto: Das tödlich wirkende Pentobarbital wird von der Schweizer Sterbehilfeorganisation „Dignitas“ verwendet: Entsolidarisierung der Gesellschaft

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