© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/14 / 25. April 2014

Der Flaneur
Eltern mit Phantasie
Bernd Rademacher

Freitags gibt es in der Kindertagesstätte zur Abholzeit Kaffee und Kuchen. Man läßt sich von den Kleinen ihre neuen Klecks-Kunstwerke zeigen, läßt sich von den Erzieherinnen über die erfreulichen Entwicklungsfortschritte berichten und tauscht sich mit den anderen Eltern über Kindergeburtstage, Reitstunden und Impftermine aus. Die Stimmung ist nett, es macht Freude, die Kurzen in ihrem Element zu beobachten.

Wir hocken im Eßraum auf den Zwergenstühlen, die bei längeren Elternabenden schier zur Qual werden. Man ist ins Geplauder vertieft, die Kinder spielen nebenan. Plötzlich von drüben ein panischer Aufschrei, markerschütternd, wie aus einem schlimmen Horrorfilm! Alles stürzt auf, der Kaffee schwappt über. Ein Dutzend alarmierter Eltern zwängt sich in die Tür zum Tatort Malraum.

Also Erik! Der Kleine fühlt augenblicklich zahlreiche unbehagliche Blicke auf sich.

Da steht die kleine zarte Lilly, kreidebleich, am ganzen Leibe zitternd, in Tränen aufgelöst. Um Gottes willen! Was ist denn passiert, nun sag doch ... Ihre Lippen beben, dann stammelt sie: „Erik ...“ Also Erik! Der kleine Erik fühlt augenblicklich zahlreiche unbehagliche Blicke auf sich. „Erik hat ... Erik hat mir ...“. Tränen ersticken ihre Stimme. Die Phantasien der Eltern gehen steil. Alle denken dasselbe: Mißbrauch unter Fünfjährigen! Die kleine Lilly für immer schwersttraumatisiert! Die Blicke der Eltern zu Sexmonster Erik gleichen schon den Läufen eines Erschießungskommandos. Lilly vergräbt sich in die Arme der Mutter.

Endlich schluchzt sie: „Erik hat mir ... das blaue Auto weggenommen!“ Ein kollektiver Seufzer und ein Dutzend Hände, die gegen die Stirn klatschen. Erleichtert läßt sich alles wieder auf die Zwergenstühle fallen. Erik ist rehabilitiert. „Na ja, man ist ja durch die Me-dien schon so sensibilisiert ...“, sagt eine Mutter.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen