© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/14 / 02. Mai 2014

Kampf an zwei Fronten
Niedersachsen: Rot-Grün muß seine Asylpolitik gegen Kritik der Opposition und der Lobbyverbände verteidigen
Christian Vollradt

Wenn Wahlversprechen sich nach der Wahl als mit der Realität nur schwer vereinbar erweisen, haben die Gewählten normalerweise zwei Möglichkeiten: entweder sie ignorieren ihr früheres Versprechen – oder die Realität. Niedersachsens rot-grüne Landesregierung hat sich für eine dritte Option entschieden: beides zu tun.

Vollmundig hatten die Koalitionäre im März vergangenen Jahres angekündigt, es werde einen „Paradigmenwechsel zu einer humaneren Flüchtlingspolitik“ geben. Denn als SPD und Grüne noch in der Opposition waren, hatten sie vor allem den Innenminister der schwarz-gelben Vorgängerregierung, den als „Hardliner“ verschrieenen Uwe Schünemann (CDU), als „Abschiebeminister“ ins Visier genommen. Künftig, so lautete die Konsequenz dieser harschen Kritik, werde es weniger Abschiebungen geben und vor allem keine nächtlichen mehr. Ein gutes Jahr später mußte Innenminister Boris Pistorius (SPD) im Landtag die Zahlen auf den Tisch legen. Und siehe da: Die Zahl der abgeschobenen Personen ist gestiegen (von 563 im Jahr 2012 auf 649 im Jahr 2013), und in mindestens hundert Fällen wurden die Betroffenen vor 6 Uhr morgens – also nachts – abgeholt.

Nicht ohne eine gewisse Häme stellte die CDU dann fest, daß den Titel „Abschiebeminister“ nun Schünemanns Nachfolger Pistorius verdient habe. Der allerdings verteidigt sich, indem er bei den statistischen Daten fein säuberlich trennt. So habe es bei den aus Niedersachsen Abgeschobenen zwei Kategorien gegeben: jene, bei denen die Landesbehörden noch einen juristischen Entscheidungsspielraum gehabt hätten, und jene, bei denen allein das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) das Sagen hatte. Im Fall der letzteren sei Niedersachsen nur noch für den Vollzug zuständig gewesen. Dies betrifft abgelehnte Flüchtlinge, die gemäß dem Dublin-Abkommen in das EU-Partnerland überstellt werden, in dem sie erstmals Asyl beantragt hatten. Laut Pistorius hätten diese Überstellungen im vergangenen Jahr wesentlich zugenommen (von 120 im Jahr 2012 auf 301 im Jahr 2013). Die Zahl der „echten“ Abschiebungen dagegen sei von 443 (2012) auf 348 (2013) reduziert worden. Für die Opposition sind das Spitzfindigkeiten, und auch die Asyllobby, wie etwa der Niedersächsische Flüchtlingsrat, sieht darin alles andere als den versprochenen Paradigmenwechsel.

Um so mehr betonte Pistorius in einer Regierungserklärung im März, wo es seiner Ansicht nach sehr wohl einen großen Schritt zu mehr Humanität gegeben habe: „In Niedersachsen kündigen wir heute grundsätzlich jeden Abschiebungstermin an.“ Die rechtzeitige Bekanntgabe der konkreten Termine, „zu denen sich die Ausreisepflichtigen für den Transfer zum Flughafen oder zur Grenzübergangstelle bereithalten müssen, hat in der neuen Rückführungspraxis absolute Priorität“, verkündete der Innenminister stolz. Und natürlich zahle das Land nun wegen späterer Flugverbindungen „für höhere Ticketpreise oder für höhere Personalkosten, wenn das für die Betroffenen zu einem humaneren Ablauf führt.“

Die praktischen Konsequenzen einer solchen „angekündigten Abschiebung“ bekamen Behördenmitarbeiter jüngst in Göttingen – recht handfest – zu spüren. Dort sollte ein Somalier morgens um fünf Uhr abgeholt und gemäß der Dublin-Vereinbarungen wieder zurück nach Italien überstellt werden. Doch als die Beamten am Wohnsitz des Mannes eintrafen, hatten rund 50 Mitglieder der linksextremen Szene, darunter Angehörige der als gewalttätig einzustufenden Antifaschistischen Linken International (A.L.I.), die Eingänge blockiert.

Parlamentarisches Nachspiel

Als Polizisten schließlich versuchten, die Blockade aufzulösen, wurden sie von den Störern heftig attackiert. Die Polizei setzte schließlich Schlagstöcke, Pfefferspray und Hunde ein. Nachdem das Treppenhaus geräumt worden war, fanden die Beamten den 30 Jahre alten Somalier nicht in seiner Wohnung an. Da die Göttinger Ausländerbehörde auf eine „richterliche Anordnung zur Gebäudedurchsuchung“ verzichtete, wurde die Abschiebung schließlich abgebrochen.

Das Fiasko hat nun ein parlamentarisches Nachspiel. Sowohl die Grünen als auch die CDU im Landtag fordern eine Aufklärung über die Vorgänge in der südniedersächsischen Stadt – wenn auch mit unterschiedlicher Intention. Die Grünen kritisieren den „harten Polizeieinsatz gegen Abschiebegegner“, Fraktionschefin Anja Piel möchte die Verantwortung und den Ablauf der gesamten Rückführungsaktion geklärt wissen. Der CDU-Abgeordnete Ansgar Focke, Mitglied des Innenausschusses, bezeichnete die Krawalle als „Ergebnis realitätsfremder Asylpolitik von Rot-Grün“. Die Ankündigung von Abschiebungsterminen führe dazu, daß Betroffene „vorher abtauchen können oder Demonstranten eine Rückführung mit allen Mitteln zu verhindern versuchen“.

In Göttingen sehen Teile von SPD und Grünen die Verantwortung woanders. Die grüne Stadtratsfraktion fordert die Auflösung der BFE; Jusos und Grüne Jugend fordern darüber hinaus den Rücktritt des Polizeipräsidenten.

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