© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/14 / 02. Mai 2014

Ein Wegbereiter moderner Realpolitik
Vor 250 Jahren wurde der österreichische Publizist und Staatsmann Friedrich von Gentz geboren
Felix Dirsch

Manche Autoren wirken in späteren Epochen moderner als in ihrer eigenen. Der Schriftsteller und spätere Wiener Hofrat Friedrich von Gentz ist ein Beispiel dafür. Sein Eintreten für die Autonomie des Politischen gegen die aufgeklärte Sicht vom Staat als Erziehungsinstitut läßt ihn eher als Kind unserer Zeit erscheinen, in der sich das Gemeinwesen gegen die Omnipräsenz der Märkte behaupten muß und ebenso schwach erscheint wie vor über zwei Jahrhunderten.

Gentz’ Leben verlief ereignisreich. Als Schüler Immanuel Kants in Königsberg bekannte er sich voll und ganz zum Gedankengut der Aufklärung. Auch der Französischen Revolution stand er in ihrer Frühphase positiv gegenüber. Der Saulus wurde erst zum Paulus, als er Edmund Burkes kritische „Betrachtungen“ verinnerlichte. Der britische Whig-Abgeordnete (1729–1797) nahm den Jakobinerterror der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts bereits publizistisch vorweg. Grund genug für Gentz, eine brillante Übersetzung dieser „Bibel der Gegenrevolution“ anzufertigen.

Auf dem Wiener Kongreß zog Gentz die Strippen

Einige Jahre verbrachte Gentz, der früh die Gefahren eines überzogenen Volksvoluntarismus und „Demokratismus“ (Friedrich H. Tenbruck) erkannte, im preußischen Staatsdienst. Danach unternahm er viele Reisen in Europa, auf denen er überall seine antinapoleonischen Kontakte vertiefte. Ab 1810 intensivierten sich die Beziehungen zu Österreich. Der „Staatspublizist auf eigene Rechnung“ (Harro Zimmermann, JF 42/12) hatte früh die Aufmerksamkeit Fürst Metternichs geweckt.

An der Seite des österreichischen Staatskanzlers prägte Gentz ab 1815 das Zeitalter und wurde rasch zum „Monument des Restaurationssystems“ (Zimmermann). Bereits auf dem Wiener Kongreß hielt er die Fäden in der Hand.

Folgerichtig mutierte er zum Erzfeind aller Liberalen. Doch die graue Eminenz am Kaiserhof legte ihre früheren freigeistigen Prägungen niemals ganz ab. In einem Brief von 1818 heißt es, „etwas mehr Freiheitsgeist“ könne Frankreich nicht schaden, die Revolution habe dort nicht nur Nachteile gebracht. Zu wichtigen Gestalten des Zeitalters, etwa zu Rahel Varnhagen, unterhielt er enge Verbindungen.

Viel gelesen wurde Gentz’ Schrift „Über den Unterschied zwischen den landständischen und den Repräsentativverfassungen“. Mit den zu geringen konstitutionellen Zugeständnissen brachte er vor allem die nationalliberal orientierten Burschenschaften gegen das politische Establishment auf. Die Unruhen eskalierten 1819 infolge der Ermordung des als reaktionär abgelehnten Dichters August von Kotzebue durch den Studenten Karl Ludwig Sand. Metternich gelang es, den preußischen König auf seine Seite zu ziehen.

Späte Reue über die Demagogenverfolgung

Die Doktrin Gentz’, im deutschen Bund dürfe es bloß ständische Vertretungen geben, die nur bestimmte Körperschaften repräsentieren könnten, aber nicht das Volk, wollte Metternich verwirklichen. Diese Absicht ließ sich nicht umsetzen, weil einige süddeutsche Staaten die einmal gewährten, wesentlich weitergehenden Zugeständnisse an die Bevölkerung nicht wieder revidieren wollten. Die Karlsbader Beschlüsse beabsichtigten, den neuen, besonders nach dem Wartburgfest 1819 handgreiflichen Radikalismus des intellektuellen Milieus zu verfolgen. Überall machte man nun Demagogen aus. Die Pressefreiheit stand fast nur auf dem Papier.

Gentz‘ exzellenter Verstand nahm wohl früh wahr, daß sich der Vorrang des monarchischen Prinzips vor dem der Volkssouveränität nicht dauerhaft durchsetzen lassen werde. Im Alter resignierte er daher. Dem primären Architekten der Ära wird mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom Wiener Kongreß die Fragwürdigkeit des Systems bewußt. Anläßlich seines Todes rühmte sein Dienstherr nicht nur das publizistische Talent und den Fleiß seines langjährigen Weggefährten – die im Zeitraum von 1997 bis 2004 erschienenen „Gesammelten Schriften“ umfassen nicht weniger als 24 umfangreiche Bände –, sondern auch dessen Güte und Liebenswürdigkeit.

Von den vielfältigen Stationen der Gentz-Rezeption sind nur zwei Unternehmungen zu nennen: Der Historiker Golo Mann, der die Traditionslinie des liberalkonservativen Denkens schätzte, verfaßte im amerikanischen Exil die wohl meistrezipierte Untersuchung über den „ersten europäischen Staatsmann im modernen Sinne“. Unter dem Titel „Revolution und Gleichgewicht. Politische Schriften“ dokumentierte kürzlich Hans Jörg Hennecke das vielschichtige Wirken dieser Größe der Diplomatiegeschichte zwischen Aufklärung, Realismus und Konservatismus, deren Streben nach dem Gleichgewicht der Mächte nichts von seiner Aktualität verloren hat.

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