© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/14 / 02. Mai 2014

Sei normal, sei du selbst
Neuer Begriff, alter Inhalt: „Normcore“-Klamotten werden unter Medienschaffenden als der letzte Schrei hochgeschrieben
Ronald Berthold

Früher war es die Mama, die uns sagte, was wir anziehen sollen. Heute sind es Modepäpste und der Gruppendruck, die angeblich unser Outfit bestimmen. Doch nun ist diese Zeit des Diktats der zweiten Haut endlich vorbei. Puh! Jetzt kommt „Normcore“. Das aus „normal“ und „Hardcore“ (harter Kern) zusammengesetzte Wort soll uns sagen, jeder könne tragen, was er will. Danke, aber das haben wir doch immer schon getan, nachdem wir den Rat unserer Mütter nicht mehr brauchten.

Was sich die New Yorker Agentur „K-Hole“ ausgedacht hat, trat in kürzester Zeit seinen Siegeszug rund um die Welt an. Nicht nur in den Vereinigten Staaten und der Modemetropole Paris, sondern sogar in der Türkei sorgte „Normcore“ für Furore. Überall wurde über die neue Freiheit diskutiert, sich einfach so zu kleiden, wie es einem am besten gefällt. Was früher Punks, Popper und Ökos waren, sind heute Hipster, Rapper und Gangster. Ach so, Sie gehörten früher zu keinem dieser Spinner? Und heute auch nicht? Willkommen im Klub, liebe Leser.

Durch sein Aussehen zeigt der Mensch angeblich, das wollen uns jetzt die Vor- und Querdenker einreden, wem er sich zugehörig fühlt. Soweit zumindest die Theorie, mit der sich jetzt alle wichtigen Medien beschäftigen. Springers Welt dreht den „Normcore“-Begriff von vorn nach hinten und von links nach rechts, um über die Rolle der Bedeutung von Kleidung zu spekulieren. Doch all diejenigen, die jetzt weltweit über die Freiheit des Anziehens diskutieren, haben offenbar noch nie einen Blick in die Fußgängerzone geworfen: Dort laufen schon seit Jahrzehnten 99 Prozent der Menschen normal herum. Die „Normcore“-Debatte ist also eine Diskussion für Leute, die sich seit einiger Zeit plötzlich dicke Hornbrillen aufsetzen, dichte Bärte wachsen lassen und komische Scheitel kämmen, kurz: die Hipster. Ihre Lockerheit demonstrieren sie durch spießiges Aussehen. Mann, sind die cool.

Irre wichtige Theorien abgehobener Zeitgeistlaffen

Dabei ist es doch viel lässiger, nicht nur eine Stilrichtung im Kleiderschrank zu horten, sondern für jeden Anlaß eine. Wer geht schon im Beach-Look auf eine Trauerfreier? Und wer im Used-Look zum Vorstellungsgespräch? Barack Obama zum Beispiel soll sich – so die irre wichtige Theorie derjenigen, die „Normcore“ kritisieren (die gibt es jetzt nämlich auch schon) – gegen Wladimir Putin nicht durchsetzen können, weil er sich während seiner Freizeit auch mal im Schlabberlook hat fotografieren lassen.

Putin dagegen kommt immer wie aus dem Ei gepellt daher. Kein Wunder, daß er seinen amerikanischen Kollegen nicht ernst nehmen könne und der wiederum kein Selbstbewußtsein habe, der Position des Westens zum Sieg zu verhelfen. So einfach ist die Welt und die Weltpolitik.

Doch wie paßt das eigentlich zu den Grünen, die sich mit all ihren gesellschaftlichen Wertvorstellungen durchgesetzt haben und diktieren, was wer sagen und denken darf? Davon, daß die besonders gut angezogen waren, als sie ihren unaufhaltsamen Durchmarsch ins Bewußtsein angetreten haben, kann nun wirklich keine Rede sein.

Oder wie konnte Helmut Kohl mit seinen damals schon unmodernen blaugrauen Zweireihern der Größe XXXXL die Wiedervereinigung und Deutschlands Nato-Mitgliedschaft durchdrücken? Und warum wurde der Dicke aus der Pfalz immer wieder gewählt?

„K-Hole“, ein Unternehmen mit fünf Mitarbeitern, die meinen, globale Trendsetter zu sein, bringen nun also den Atem der Welt ins Stocken – oder wenigstens das, was Journalisten, Modeschöpfer und andere mit Äußerlichkeiten beschäftigte Pfauen für die Welt halten. Es gehe um eine „Lebenshaltung“ oder sogar „Strategie“, so die Welt, „die nicht mehr Differenz zum Ziel hat, sondern das entspannte Mitschwimmen in der Masse“.

Wer eben noch über Hoodies (Kapuzenpullover) geschrieben hat und deren Bedeutung unter Online-Journalisten, widmet sich nun „Normcore“. Dahinter steht der Gedanke, etwas völlig Neues entdeckt zu haben. Wie weit sind doch diese selbsternannten Multiplikatoren von den Menschen entfernt, für die sie schreiben sollen! An „Normcore“ ist nur der Name neu, der Inhalt des Begriffs ist alt wie Steinkohle.

Foto: Wir alle. Einfach normal angezogen: Mitschwimmen in der Masse kann so entspannend sein

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