© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

In ihrem Selbstverständnis erschüttert
Ukraine-Konflikt: Die weltgewandte Hafenmetropole Odessa wird zum Schauplatz eines tödlichen nationalistischen Exzesses
Christian Rudolf

Der Schock steckt den Menschen noch in den Gliedern. Daß es ausgerechnet „Mama Odessa“ traf, wie sie im Volksmund zärtlich genannt wird, schmerzt an der schrecklichen Tragödie vom 2. Mai so besonders. Die mondäne Hafenstadt am Schwarzen Meer mit der berühmten Potemkintreppe war ein Ort zum Wohlfühlen für viele Völker. Politik spielte noch nie eine große Rolle, der Puls der Stadt und ihrer Menschen schlug für Tourismus und Handel, Fröhlichkeit, Witz und Schalk der Odessiten sind sprichwörtlich, hier war die Heimat der im ganzen russischen Kulturraum bekannten Satiriker Ilf und Petrow. Einer ihrer „Zwölf Stühle“ aus dem gleichnamigen Roman steht in Bronze an der Deribasiwska, dem Prachtboulevard, den in der warmen Jahreszeit Scharen gutgelaunter Sommerfrischler bevölkern und als Fotomotiv ein Muß ist.

Prorussische Spalter provozieren am Maifeiertag

Das Tor zur Welt der unabhängigen Ukraine wirkte nie besonders ukrainisch noch besonders russisch, seit die Stadt von Katharina der Großen 1794 gegründet wurde und französische und italienische Architekten dem Ort ein westeuropäisches Gepräge gaben. Puschkin besang im Vers­epos „Ewgenij Onegin“ Freiheit und Ungezwungenheit des bunten Völkchens aus Slawen, Juden, Rumänen und Griechen, das den Neuankömmling nicht nach der Abstammung fragte, sondern nach „Was kannst du?“ Noch heute zeugt der Name des Stadtteils Lustdorf vom Leben der Schwarzmeerdeutschen. Dem heute Reisenden begegnet eine Vertrautheit im Umgang mit Fremden, die wohl in der ganzen früheren Sowjetunion ihresgleichen sucht.

Man muß diesen Hintergrund kennen, um ein Gefühl für das Unbegreifbare zu entwickeln, das sich am Freitag vergangener Woche dort abgespielt hat. Zwar war auch an Odessa die Politik nicht ganz vorübergegangen: Auch hier hatte es Proteste prorussischer Separatisten gegeben, deren Aktivitäten in der Forderung nach einer – illegalen – Volksabstimmung nach dem Muster der Krim kulminieren. Doch bisher blieb es friedlich, nationalistischen Haß gab es anderswo, aber nicht hier.

Der Maifeiertag war eine Provokation für diejenigen, denen die Einheit der Ukraine eine Selbstverständlichkeit ist. Nicht nur, daß die 1. Mai-Demonstration kommunistisch dominiert war, mit Losungen wie „Nein zum Kapitalismus“ und „Heute mit dem Flugblatt, morgen mit dem Gewehr“ (was sich auf russisch reimt); die einige tausend Teilnehmer skandierten „Odessa – Neurußland“ und griffen damit einen historischen Begriff auf, den der russische Präsident Putin kürzlich für die ukrainische Schwarzmeerniederung gebrauchte.

Der genaue Verlauf der Ereignisse am 2. Mai mit zwei Schauplätzen und mindestens 46 Todesopfern ist noch ungeklärt, besonders hinsichtlich der eigentlichen Hintermänner.

Polizei passiv aus „kriminellen Gründen“?

Kiew schickte am Montag Spezialkräfte nach Odessa, nachdem die Übergangsregierung die gesamte Polizeiführung der Gebietshauptstadt abgesetzt hatte. Innenminister Arsen Awakow warf der Polizei vollkommen unverantwortliches Handeln vor, „möglicherweise aus kriminellen Gründen“.

Mit aller Vorsicht kann das folgende wohl als gesichert gelten: Vaterländisch gesinnte Fußballfans versammelten sich mit gewöhnlichen Einwohnern nachmittags auf dem zentral gelegenen Kathedralplatz, um unter einem Meer blaugelber Fahnen für die Einheit des Staates zu demonstrieren – geschützt von eigenen, bewaffneten sogenannten „Selbstverteidigungskräften“. Aus einer Seitenstraße strömten plötzlich eine große Zahl prorussischer Marodeure, die maskiert und mit Schuß- und Schlagwaffen ausgerüstet mit roher Gewalt auf die „Ukrainer“ eindroschen, unter den Augen passiv wirkender Polizeieinheiten. Schon hier gab es mehrere Todesopfer durch Schüsse. Nach Berichten örtlicher Medien füllten sich die Straßen mit Anwohnern, die auf den Krawall hin sich mit den bedrängten proukrainischen Demonstranten solidarisierten. Aus der Innenstadt setzte sich ein Zug von einigen tausend Menschen in Bewegung mit dem Ziel Kulikowfeld – ein Park unweit des Bahnhofs, in dessen Mitte das pompöse Haus der Gewerkschaften steht, früher Sitz der örtlichen KPdSU. Das davor aufgeschlagene Zeltlager des Anti-Maidan, also prorussisch-sezessionistisch Gesinnter, wurde von den Ankömmlingen innerhalb von Minuten niedergebrannt. Einige hundert der dort Kampierenden flüchteten sich in das Gebäude, aus dem heraus sodann Knallkörper und Molotowcocktails flogen. Der draußen stehende „pro­ukrainische“ Mob warf ebenfalls vorbereitete Brandsätze durch Türen und Fenster. Die Eingangshalle brannte bald lichterloh. Die Feuerwehr soll frühestens eine Stunde danach eingetroffen sein. Zurück bleibt eine in ihrem Selbstverständnis erschütterte Stadt, die sich auf neue Unruhen am 9. Mai, dem „Tag des Sieges“, gefaßt macht.

Foto: Im verbrannten Eingang des Gewerkschaftshauses: Auch noch Tage nach den Unruhen herrschen Trauer und Fassungslosigkeit in der Stadt

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