© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Simon Becketts neuer Thriller „Der Hof“ hat exakt 451 Textseiten; die korrekte Zählung ist hier wichtig. Der englische Bestsellerautor („Die Chemie des Todes“, „Kalte Asche“) vermag auch in diesem Buch wieder vom ersten Moment an Spannung zu erzeugen. Doch je weiter ich darin lese, desto mehr befällt mich eine eigentümliche Mattigkeit. Es scheint fast so, als beginne die erdrückende Hitze, in der dieser Psychothriller spielt, aus den Buchseiten emporzusteigen und auf mir zu lasten. Die Lektüre bleibt zwar fesselnd, wird aber zunehmend auch zur Qual, ohne daß ich mir zunächst erklären kann, woran das liegt. Dann, plötzlich, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Leider erst auf Seite 384 – mithin also nach 85 Prozent des gesamten Textkorpus – stoße ich auf eine Passage, in der den Erzähler beim Blick auf seine Uhr fast der Mut verläßt, „weil nur wenige Minuten vergangen sind, seit ich das letzte Mal draufgeschaut habe“. Und weiter: „Es ist, als wären auf dem Hof die Gesetze der Physik außer Kraft gesetzt. Vielleicht warte ich aber einfach nur darauf, daß irgend etwas passiert.“ Potzblitz! Das ist es, denke ich. Genau das ist es die ganze Zeit über gewesen. Ein Paradoxon: Der Thriller von Simon Beckett ist spannend, ohne daß sich bis dahin etwas wirklich Aufregendes ereignet. Ich wartete einfach darauf, daß irgend etwas passiert. Dummerweise springt Beckett am Ende seines Thrillers, gemessen an dem langen Anlauf, auch noch viel zu kurz.

Für das Verdi-Requiem im Konzerthaus am Gendarmenmarkt bin ich viel zu früh dran, also genieße ich an diesem milden Frühlingsabend die Szenerie und Atmosphäre an diesem gern als „schönster Platz Berlins“ bezeichneten Ort. Am Stand von Dom-Curry gegenüber dem Hilton-Hotel wird die Wurst nicht auf Papptellern, sondern in Porzellanschalen mit Edelstahlgäbelchen gereicht; Zweispänner-Kutschen mit Touristen zuckeln vorbei; ein Angestellter der Newton-Bar vertieft sich während einer Zigarettenpause in sein Smartphone; junge Leute sitzen einzeln oder paarweise auf den Stufen des Deutschen Doms; Passanten schlendern über den Platz, fotografieren das von Reinhold Begas geschaffene Schiller-Denkmal und die vier allegorischen Frauenfiguren zu seinen Füßen; Konzertbesucher sammeln sich vor dem Schauspielhaus. Den krönenden Abschluß dieses Abends bildet dann Verdis „Messa da Requiem“, dargeboten vom Berliner Konzert-Chor und Orchester und dem Konzertchor Harmonie Zürich, dirigiert von Jan Olberg. Die „Tage des Zorns“ erschüttern mich jedesmal wieder aufs neue.

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