© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/14 / 09. Mai 2014

Der Wohlfahrtsstaat als Basis der industriellen Moderne
Eigensinnig sozialliberal: Der französische Soziologe Raymond Aron im Kalten Krieg der Intellektuellen
Dirk Glaser

Raymond Aron (1905–1983) war der einzige Liberale von Weltrang, den Frankreichs Geistesgeschichte im 20. Jahrhundert aufzuweisen hat. Als Leitartikler des stramm antikommunistischen Figaro formte der Philosoph, der 1955 nur gegen starke Widerstände des linksintellektuellen Establishments einen soziologischen Lehrstuhl an der Sorbonne erhielt, von 1947 bis 1977 das politische Weltbild der gemäßigten, proatlantischen wie proeuropäischen Bourgeoisie seines Landes.

Diese recht einsame antitotalitäre Position in Zeiten des Kalten Krieges, als Frankreichs Meisterdenker, angeführt von Arons Studienfreund Jean-Paul Sartre, der Sowjetunion huldigten und in weltrevolutionären Visionen schwelgten, reiht den von Clausewitz und Max Weber gleichermaßen geprägten Denker aber keineswegs in die Ahnengalerie des „Neoliberalismus“ ein, wie Matthias Oppermann in seiner Studie über Arons Beziehungen zum US-Liberalismus darlegt (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft 3/4– 2014).

Sozialstaat zur Sicherung der Loyalität der Massen

Zwar trat Aron früh der 1947 gegründeten Mont Pelerin Society bei, dem bis heute einflußreichen Netzwerk neoliberaler Ökonomen und Wirtschaftspolitiker, aber er engagierte sich in dem von Friedrich August von Hayek und den „Libertären“ der Österreichischen Schule dominierten Kreis kaum und nahm 1957 „lautlos seinen Abschied“, weil ihn von diesem Milieu „Welten“ getrennt hätten.

Für Aron war das nur auf einen negativen Freiheitsbegriff und die Unabhängigkeit des Individuums fixierte libertäre Konzept zu primitiv, um vor den Anforderungen der Industriegesellschaft bestehen zu können. Im Unterschied zu von Hayek und seinen Anhängern verarbeitete Aron, der von 1931 bis 1933 als Lektor an der Kölner und Berliner Universität unterrichtet und sich in die Tradition der deutschen Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie eingelebt hatte, die von Karl Marx ausgehende antikapitalistische Kritik produktiv. Der Wohlfahrtsstaat blieb daher für ihn eine „unumgehbare soziale und politische Notwendigkeit der industriellen Moderne“.

Was ihn von den radikalen Laissez-faire-Liberalen um von Hayek trennte, brachte Aron jener Spielart des Liberalismus näher, die in den USA der Nachkriegszeit dominierte. „Truman-Demokraten“ wie Arthur Schlesinger glaubten auf eine sozialstaatliche Abfederung des kapitalistischen Systems nicht verzichten zu können, um die Loyalität der Massen zu sichern. Die Eindämmung des sowjetischen Totalitarismus auf internationaler Ebene bedingte für sie wirtschafts- und sozialpolitische Reformen, die die Stabilität im Innern der USA gewährleisteten.

Der Einsatz für diesen antistalinistischen „Cold War Liberalism“ brachte den assimilierten Juden Aron, der stets seinen Patriotismus betonte, in die Schußlinie gleichermaßen der Gaullisten wie der Linken, die ihn als Büchsenspanner des „amerikanischen Imperialismus“ schmähten. Seine Gegner sahen sich in diesem Vorwurf bestätigt, als die New York Times 1966 enthüllte, daß Arons Plattform, der transatlantische „Kongreß für kulturelle Freiheit“, ein von der CIA finanziertes Unternehmen war – wovon er selbst nie etwas geahnt hatte.

Aufgrund dieser Enthüllung und wegen der Linksverschiebung, die im Lager der US-Liberalen infolge des Vietnamkrieges eintrat, ging Aron auf Distanz. Die wahrte er erst recht, als sich in den 1970ern innerhalb der „Ostküstenelite“ jene Liberalen sammelten, die progressive Demokraten nur als „Neokonservative“ bezeichneten und die unter Ronald Reagans Präsidentschaft erfolgreich darauf drangen, gegenüber der Sowjetunion in die Offensive zu gehen und den „Roll Back“ zu wagen.

Aron blieb hingegen ein Anwalt der defensiven Strategie der „Eindämmung“. Überdies hielt er, trotz verhaltener Zustimmung zu Margaret Thatchers „Liberalisierung“ der britischen Wirtschaft, am „grundsätzlichen Erfordernis eines begrenzten Sozialstaats“ fest. Und mit dem aggressiven Anspruch auf militärische, politische und sogar „geistige“ Führung , den die „Neocons“ gegenüber dem „alten Europa“ erhoben, vertrug sich sein unbeirrbarer französischer Patriotismus nicht.

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