© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/14 / 16. Mai 2014

Als Prophet hat er versagt
„Vereinigte Staaten von Europa“: Der Philosoph Jürgen Habermas schlägt vor, der EU ein politisches System nach US-Vorbild zu verpassen
Markus Brandstetter

Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas hat am 1. Mai an der amerikanischen Elite-Universität Princeton einen Vortrag zum Thema „The Transnationalization of Democracy: A European Experiment“ gehalten, was man mit „Die Überwindung der Nation in der Demokratie: ein europäisches Experiment“ übersetzen könnte. Im Kern seiner Rede schlug der inzwischen 84jährige Habermas vor, den Ministerrat der EU in eine Ländervertretung nach dem Vorbild des US-amerikanischen Senats zu verwandeln, und zwar mit der ausdrücklichen Absicht, das Defizit an Demokratie und an demokratischer Legitimität in der EU zu heilen.

Deutschland würde an Einfluß verlieren

Halten wir uns kurz dabei auf, daß Habermas eingesteht, daß die EU und ihre Institutionen demokratisch nicht voll legitimiert sind. Das kann ja nur bedeuten, daß die vielen Gesetze, Verordnungen und Verfügungen, die die EU-Kommission erläßt und die überall nationales Recht ergänzen, verändern und verletzen, in Wahrheit nicht demokratisch zustande gekommen sind. Wenn sie das aber nicht sind, was sind die Verfügungen der EU-Kommission dann? Nun Kabinettspolitik eben, Hinterzimmer-Entscheidungen von Bürochefs, Maßnahmen nicht gewählter Gremien und Ausschüsse, oft gut gemeint, mitunter sinnvoll, manchmal wohl erwogen, aber nicht der Ausdruck des Willens souveräner Bürger, sondern Direktiven von EU-Hofschranzen.

Diesen Mangel an demokratischer Legitimation will Habermas nun durch den Rückgriff auf das Zweikammersystem der amerikanischen Demokratie heilen. „Den Ministerrat“, schreibt die FAZ in einer Zusammenfassung der Rede, „will Habermas in ein Staatenhaus überführen, in das alle Mitgliedsstaaten die gleiche Zahl von Vertretern entsenden, und die Kommission als Regierung wäre dann beiden Kammern verantwortlich.“ Um Habermas’ Vorschlag richtig zu interpretieren, müssen wir verstehen, was der EU-Ministerrat und der amerikanische Senat eigentlich sind, welche Funktionen sie haben, wie sich beide vergleichen lassen und wie sich dann Habermas’ Vorschlag in der Praxis auswirkte.

Zuerst zum EU-Ministerrat: Offiziell heißt er „Rat der Europäischen Union“ und ist neben dem Europaparlament der zweite Teil der Legislative der EU, spielt also eine entscheidende Rolle bei der Verabschiedung von Gesetzen und Budget der EU. Jedes der 28 EU-Länder ist im Ministerrat mit einem Minister vertreten. Abgestimmt wird nach einem komplizierten Proporzsystem, das sich an der Bevölkerungszahl der Mitgliedsstaaten orientiert, aber den großen Mitgliedsstaaten nicht den Einfluß gibt, der ihnen nach Bevölkerungsgröße und Wirtschaftsleistung zustünde. So verfügt Deutschland über 16,5 Prozent der Bevölkerung aller EU-Länder, aber nur über 8,4 Prozent der Stimmanteile im Ministerrat.

Der amerikanische Senat hingegen ist ein völlig anderes Tier. Im Zweikammersystem der USA stellt der Senat ein Gegenstück zum britischen Oberhaus dar, eine elitäre Versammlung mächtiger Abgeordneter, die ein Gegengewicht zum Parlament, dem Repräsentantenhaus, bilden sollen. Es gibt hundert Senatoren, zwei für jeden Staat, unabhängig von seiner Größe und Bevölkerung. Der große, aber menschenleere Staat Wyoming mit einer halben Million Einwohner entsendet ebenso zwei Senatoren in den Senat wie Kalifornien mit seinen 33 Millionen Einwohnern. Die einhundert Senatoren sind mächtiger und angesehener als die Mitglieder des Parlaments, weil sie Untersuchungsausschüsse mit richterlichen Rechten einberufen, Gesetze ebenso einbringen wie torpedieren und das Inkrafttreten des US-Haushalts vereiteln können.

Habermas schlägt nun vor, aus dem EU-Ministerrat ein Oberhaus zu machen, das von seiner Funktion, seinen Rechten und Kompetenzen her mit dem US-Senat vergleichbar wäre. Übertragen auf derzeitige EU-Verhältnisse würde dies bedeuten, daß der Ministerrat dann 56 Senatoren mit identischen Stimmrechten hätte, von denen jeweils zwei ein EU-Land verträten. Deutschland würde in einer solchen Kammer schlagartig an Einfluß verlieren, wäre nur noch ein Land wie alle anderen auch und würde von kleineren und wirtschaftlich schlechter dastehenden Ländern andauernd überstimmt werden.

Zwerge wie Malta, Zypern, Estland, Slowenien und Lettland, wirtschaftliche Problemfälle wie Griechenland, Portugal und Rumänien – sie alle hätten denselben Einfluß auf die zweite Kammer der EU-Regierung wie Deutschland, Frankreich oder Italien, könnten Budgets blockieren und Gesetze nach Belieben einbringen, verändern, verzögern und verhindern. Binnen kürzester Zeit würde sich eine Klein-Groß-Achse und eine Arm-Reich-Achse in dieser Kammer bilden, würden die vielen armen Länder den wenigen Reichen unversöhnlich gegenüberstehen und sie bei Abstimmungen vor sich hertreiben wie Wölfe die Lämmer.

US-Senat als Synonym für legislativen Stillstand

Es erstaunt, daß ein Denker von Habermas’ Rang davon ausgeht, daß ein direkt gewählter Ministerrat die Menschen der EU-Länder davon überzeugen könnte, sie hätten jetzt mehr zu sagen als zuvor, zeigt doch ein Blick auf die amerikanische Politik, daß genau der Senat es war, der in den letzten Jahren dafür gesorgt hat, daß die amerikanische Regierung zweimal die Zahlungsunfähigkeit des Staates riskieren mußte, weil monatelang kein Haushalt verabschiedet werden konnte. Der US-Senat hat sich als das Haupthindernis bei Verfassungsänderungen erwiesen, bildet in den USA heute ein Synonym für legislativen Stillstand, Parteilichkeit und Polarisierung der öffentlichen Meinung und ist der Hauptgrund für den amerikanischen Demokratieverdruß. Habermas’ Vorschlag würde die Probleme der EU also nicht lösen, sondern vergrößern.

Weniger wohlwollend waren Habermas’ andere Aussagen an jenem 1. Mai. Der Philosoph gestand zwar Euroskeptikern zu, daß ihr Antrieb Sorge um die Demokratie sei und nicht Fremdenhaß. Den Wunsch der Schotten nach einem eigenen Staat lehnte er jedoch strikt ab, weil diese, genau wie Katalanen und Flamen, nicht die Bewahrung ihrer kulturellen Eigenheit, sondern nur eine Destabilisierung der EU im Sinne hätten.

Unterscheidung zwischen Staats- und Kulturnation

Trotzdem leugnet Habermas nicht, daß es die kulturelle Identität eines Volkes gibt, er unterscheidet jedoch zwischen Staatsnation und Kulturnation und betont, daß die kulturelle Identität eines Volkes mit politischen und staatlichen Grenzen nicht identisch sein müsse, also verschiedene Kulturnationen in den von ihm propagierten „Vereinigten Staaten von Europa“ friedlich neben- und miteinander existieren könnten – wirtschaftlich sei das ohnehin für alle das Beste.

Habermas’ markantester Satz des Abends war sicher der, daß „die Demokratie ohne Völker auskommt“, was er mit den Gedanken der Aufklärung begründet, obwohl ein Marxist wie Habermas natürlich weiß, daß nicht die Philosophen der Aufklärung den Nationalstaat abschaffen wollten, sondern Marx und Engels, heißt es doch im Kommunistischen Manifest: „Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ Es ist also fraglich, ob die Demokratie in einem Europa ohne Nationalstaaten und Vaterländer noch eine große Rolle spielte.

Ohnehin ist Habermas zwar ein anregender Denker, aber als Prophet hat er bislang jedesmal versagt. So hat er in einem 1973 erschienem Büchlein („Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“) den Untergang der Bundesrepublik vorhergesagt, obwohl die DDR es war, die verschwunden ist. Man kann getrost annehmen, daß es Nationalstaaten und Völker noch lange nach Habermas geben wird und funktionierende Demokratien nicht trotz, sondern wegen ihnen.

Foto: Jürgen Habermas: Die kulturelle Identität eines Volkes muß nicht identisch sein mit staatlichen Grenzen, sagt der 84jährige Philosoph

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