© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/14 / 16. Mai 2014

Ein Land als Knast
Wolfgang Wietzker hat 101 Zeitzeugen nach ihrer Flucht aus der DDR befragt
Detlef Kühn

Mehr als 3,5 Millionen Menschen haben in der Zeit von 1949 bis 1990 das Gebiet der DDR verlassen. Obwohl die meisten von ihnen in der alten Bundesrepublik relativ gut integriert wurden, heirateten und Kinder zeugten, verblassen ihre Erlebnisse und die sie prägenden Ereignisse zunehmend in der allgemeinen Erinnerung. Für die heute unter 30jährigen ist die Teilung Deutschlands, sind die Verhältnisse in der Ostzone/DDR nicht mehr Teil ihrer Erlebniswelt. Über sie weiß man, was gelegentlich die Eltern und Großeltern erzählen oder was man vielleicht sogar in der Schule erfährt. Viel ist das nicht, und das öffentliche Interesse hält sich auch in Grenzen.

Diesen Umständen versucht der Herausgeber des hier anzuzeigenden Buches, ein pensionierter Offizier der Bundeswehr, der im Alter noch studiert und promoviert hat, dadurch Rechnung zu tragen, daß er bisher unbekannten Menschen Gelegenheit gibt, ihre Geschichte zu erzählen. Diese sind vielleicht nicht so bekannt wie die spektakulären und teilweise sogar verfilmten Fluchten durch gegrabene Tunnels in Berlin, über die Ostsee oder das Entkommen zweier Familien mit einem selbstgebauten Heißluftballon von Thüringen nach Bayern 1979.

Die Frauen und Männer haben auf Presseaufrufe reagiert. Sie gehören meist den Geburtsjahrgängen zwischen den 40er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts an, berichten aber oft auch über Schicksale und Erlebnisse ihrer Eltern und anderer Verwandter. Im Mittelpunkt steht immer die Flucht oder später auch die ertrotzte genehmigte Ausreise. In einigen Fällen erfolgt die Abwanderung erst nach 1990. Nur kurz und pauschal wird über die Eingliederung im Westen berichtet, die meist als nicht einfach, aber zufriedenstellend bewertet wird. Enttäuschungen sind die Ausnahme; ihre Gründe im persönlichen Bereich werden etwa von Hans-Joachim Pofahl, der 1986 einen spektakulären Durchbruch mit einem Baufahrzeug am Checkpoint Charlie in Berlin unternahm, selbstkritisch aufgezeigt.

Die Zeitzeugenberichte sind zeitlich geordnet: 31 Berichte beziehen sich auf die Zeit vor 1961, also dem Bau der Mauer, als die Flucht über West-Berlin meist problemlos möglich war. Es folgen 12 „Anträge auf Verlassen der DDR“, die überwiegend Fälle des „Freikaufs“ durch die Bundesrepublik nach 1962 umfassen. 32 Berichte schildern „gelungene Fluchten nach 1961“. Hier findet man alles, was in dieser Zeit möglich war: anfangs noch Lücken im Grenzregime, Fluchten in umgebauten Autos oder mit gefälschten Pässen im Inland oder sozialistischen Ausland, schließlich – in der Endphase der DDR – den Spaziergang über die ungarisch-österreichische Grenze, die seit August 1989 durchlässig wurde.

Freikauf beendete manche Haft wegen Republikflucht

Hubert Peuker gelang 1969 mit 16 Jahren die Flucht über die Berliner Mauer. Vier Jahre später wurde er nach einem gescheiterten Fluchthilfeversuch zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er bis zu seinem Freikauf drei Jahre verbüßen mußte. Seine Angabe, „kommerzielle Fluchthelfer wurden weniger hoch bestraft, obwohl sie meistens schon mehreren Personen zur Flucht verholfen hatten“, dürfte in dieser Verallgemeinerung kaum zu belegen sein. Gerade dieser Personenkreis wurde vom MfS als „kriminelle Menschenhändlerbanden“ mit besonderer Brutalität verfolgt. Es folgen 18 Fälle von „mißlungenen Fluchten nach 1961“, die oft mit Freikauf nach unterschiedlich langer Haft endeten. Die Zahl dieser gescheiterten Fluchtversuche ist übrigens am schwersten nachzuvollziehen, da hier meist nur die Akten der DDR Auskunft geben können.

Den Schluß bilden acht Fälle, die aus dem Rahmen fallen. Thomas Raufeisen, ein noch sehr junger Mann, flüchtete 1979 ebenfalls, aber in die DDR. Sein Vater, der Geophysiker Armin Raufeisen, war 1957 vom Ministerium für Staatssicherheit als Spion in die Bundesrepubik geschickt worden, wo er bei der Firma Preussag Karriere machte und eifrig berichtete. 1979 zog man ihn aus Sicherheitsgründen zurück. Er begab sich mit Frau und zwei – ahnungslosen – Söhnen in die DDR, wo er mit Ehren und materiellen Wohltaten überhäuft wurde. Dennoch konnten sich weder der Vater noch Sohn Thomas mit den Verhältnissen in der DDR wieder anfreunden. Als der Vater Verbindung zu westlichen Diensten aufnahm, um die Flucht zurück zu ermöglichen, war die Geduld der MfS-Genossen erschöpft: Der Vater erhielt lebenslänglich, Thomas drei Jahre Zuchthaus, die er voll verbüßte.

Thomas durfte 1984 nach Westdeutschland zurückkehren. Ob dabei für ihn von der Bundesregierung bezahlt wurde und warum in diesem besonders tragischen Fall kein früherer Freikauf möglich war, wird man vielleicht erfahren, wenn der zweite Sammelband des Bundesarchivs zum Thema „Besondere Bemühungen“ erscheint. Spätestens hier bedauert der Rezensent, daß durchweg auf Anmerkungen und Literaturhinweise verzichtet wurde. Deshalb sei auf das Buch „Der Agent. Mein Leben in drei Geheimdiensten“ (Berlin 2010) hingewiesen. Es bringt ergänzende Angaben zu Armin Raufeisen und seiner Familie und die Autobiographie eines weiteren DDR-Flüchtlings von 1979, des MfS-Offiziers Werner Stiller.

Wolfgang Wietzker (Hrsg.): Flucht aus der DDR-Diktatur. 101 Zeitzeugenberichte, Helios-Verlag, Aachen 2013, gebunden, 446 Seiten, 24,50 Euro

Foto: Peter Strelzyk erklärt vor einem Foto seine DDR-Flucht von 1979 mit einem selbstgebauten Heißluftballon in 2.500 Meter Höhe in den Westen, Mauermuseum in Berlin 2004: Nach dem Mauerbau mußten die DDR-Flüchtlinge immer kühnere Maßnahmen wagen

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