© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Kein Stein bleibt auf dem anderen
Indien: Mit dem Wahlsieg der Hindu-Nationalisten endet die Regierungsära der Gandhi-Partei / Christen und Moslems fürchten Repressalien
Marc Zöllner

Nach der wahrscheinlich größten Wahl der Menschheitsgeschichte ist die Auszählung beendet, und Indien hat ein neues Parlament. Über 815 Millionen Bürger, mehr als die Einwohner der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten zusammengezählt, waren an rund 930.000 Urnen für fünf Wochen dazu aufgerufen, ihre politischen Repräsentanten neu zu bestimmen.

Unter ihnen befand sich auch relativ viel Jungvolk: Rund die Hälfte der zur Stimmabgabe berechtigten Bürger war unter 35 Jahre alt, ganze 127 Millionen Jugendliche unter 20 Jahren durften das erste Mal ihre Stimme abgeben.

Die Wahl in Indien war jedoch ebenso eine der teuersten, einzig übertroffen von der US-Präsidentschaftswahl im November 2012. Umgerechnet rund 3,7 Milliarden Euro gaben die Kandidaten für ihre Kampagnen aus, davon allein 60 Millionen Euro, um in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter gezielt um die Stimmen der Jugend zu werben.

Diese Rechnung ging vor allem für die Bharatiya Janata Party (BJP) auf. Die Hindu-Nationalisten konnten unter ihrem charismatischen, aufgrund seiner Einstellung gegenüber religiösen Minderheiten aber auch umstrittenen Spitzenkandidaten Narendra Modi rund 31 Prozentder Stimmen auf sich vereinen. Dank des in Indien geltenden Mehrheitswahlrechts fallen ihr nun 282 der 543 Sitze des Parlaments in Neu-Delhi zu.

Linksextreme haben keine Chance

Die 19 Prozent Stimmanteile der Parlamentswahl von 2009 fast verdoppelnd, erzielte die 1980 gegründete BJP somit nicht nur das beste Ergebnis ihrer Parteigeschichte. Erstmals seit 1984 besitzt eine einzelne Partei in Indien wieder die absolute Mehrheit in der Abgeordnetenversammlung des südasiatischen Subkontinents.

Schwer angeschlagen zeigte sich hingegen die Indische Kongreßpartei (INC). Konnte die BJP über 166 Sitze hinzugewinnen, so verloren die säkularen Nationalisten unter Führung der Italo-Inderin Sonia Gandhi, der Witwe des 1991 von srilankischen Extremisten ermordeten Premiers Rajiv Gandhi, rund 162 Plätze und kamen bei einem Wahlanteil von 19,3 Prozent nur noch auf 44 Sitze. Die seit 49 Jahren regierende Volkspartei erlebte damit die verheerendste Niederlage in ihrer Geschichte.

Überraschend schlecht schnitten diesmal auch die extremen Linken ab. Gerade einmal zehn Sitze konnten die beiden marxistisch-kommunistischen Parteien des Landes für sich verbuchen. Den 1998 aus der Kongreßpartei hervorgegangenen Sozialdemokraten der All India Trinamool Congress Party (AITMC) gelang mit 3,8 Prozent der Wählerstimmen ein Sitzzuwachs von 15 auf 34 Plätze im Parlament. Knapp geschlagen von der dravidischen All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK), welche mit 37 Sitzen künftig die ethnischen Minderheiten Südindiens im Parlament vertreten wird, darf die Trinamool seitdem als viertstärkste Partei der Nation auftreten. Im bevölkerungsreichen Westbengalen an der Grenze zu Bangladesch schlug sie mit rund 40 Prozent der Stimmen sogar die beiden Volksparteien BJP und INC aus dem Rennen.

Modi punktete mit Bescheidenheit

Seinen Erdrutschsieg verdankt der 64jährige Narendra Modi vor allem seiner beim Volk populären Bescheidenheit, welche er der als machtbesessen verschrienen Politdynastie der Gandhis bewußt entgegenzusetzen verstand. Im Laufe seines Wahlkampfs ließ er sich immer wieder mit Wählern beim gemeinsamen Teetrinken auf der Straße ablichten und erzählte dabei, wie er als kleiner Junge selbst tagtäglich seinem Vater aushelfen mußte, der als Angehöriger einer der niederen Kasten in seiner Heimatstadt Vadnagar heißen Tee an Bahnangestellte und Gleisarbeiter verkaufte.

Sympathien brachte Modi vor allem sein versprochener Kampf gegen die drückende Korruption im Land ein. Im Korruptionsindex der Nichtregierungsorganisation Transparency International steht der Subkontinent seit Jahren auf einem mageren 94. Platz gelistet. Bestechungen von Beamten bis hin zu Parlamentsabgeordneten sind an der Tagesordnung. Gegen jeden dritten Abgeordneten des bisherigen indischen Nationalparlaments laufen derzeit strafrechtlich relevante Untersuchungen.

Aufgrund seiner Vergangenheit als Ministerpräsident des Bundesstaats Gujarat gilt Modi jedoch für das Gros der Christen und Moslems des Landes weiterhin als unwählbar. Im Frühjahr des Jahres 2002 waren dort schwere ethnische Unruhen zwischen Hindus und Moslems mit über 1.000 Toten ausgebrochen.

Modi entzog sich seitdem jeder Verantwortung und ließ sämtliche juristischen Untersuchungen gegen ihn ins Leere verlaufen. Aufgrund seiner undurchsichtigen Rolle während der Massaker erließ die US-Regierung 2005 ein Einreiseverbot für den Hindu-Nationalisten. Erst im Zuge seines sich ankündigenden Wahlerfolgs wurde das Verbot von Washington im Frühjahr dieses Jahres wieder aufgehoben.

Auch Modis Wahlkampf wurde von gewalttätigen Auseinandersetzungen heimgesucht. Nach einem Auftritt im Bundesstaat Assam, bei welchem er verkündete, die überwiegend moslemischen Einwanderer könnten nach seinem Sieg „die Koffer packen“, zogen Hunderte aufgebrachte Hindus und Separatisten vom Stamm der Bodo durch die Straßen und töteten Dutzende Menschen.

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