© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Der Selbsthaß blüht
Gesichter einer Nationalneurose: Viele Deutsche wollen ihrer Identität entfliehen
Michael Paulwitz

Der „häßliche Deutsche“ lebt. Und es sind die Deutschen selbst, die inzwischen am eifrigsten damit beschäftigt sind, ein Zerrbild ihrer selbst am Leben zu erhalten. Als Nationalneurose wirkt die Kriegspropaganda aus zwei Weltkriegen verinnerlicht in den Köpfen der Besiegten weiter – vom Unbehagen an der eigenen Identität über das Mißtrauen politischer und medialer Eliten gegenüber dem eigenen Volk bis zum manifesten Selbsthaß.

Mit ihrem zynisch-vulgären „Deutschland verrecke!“ – „Nie wieder Deutschland!“ – „Bomber Harris, do it again!“ überschreiten die autoaggressiven National-Borderliner aus der linksextremen „Antifa“-Szene mitunter selbst die Geschmacksgrenzen des linksliberal-postnational sich dünkenden Juste milieu. Die radikalisierten Bürgerkinder sind in ihrem auf die Spitze getriebenen Nationalmasochismus freilich Fleisch vom Fleische einer politisch-medialen Klasse, in der die Verächtlichmachung des Eigenen und die permanente innere Distanzierung vom eigenen Volk zum guten Ton gehört. Der neue Deutsche ist stolz auf seine vermeintlich weltoffene und kosmopolitische Einstellung.

„Typisch deutsch“ gilt in weiten Teilen der Welt noch heute als Ausdruck der Anerkennung. Man schätzt deutsche Tüchtigkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Effizienz – dieser uns immer noch umgebende Ruf ist übrigens von Amerika bis Asien ein wesentliches Argument, deutsche Maschinen, Anlagen, Automobile und Industrieprodukte zu kaufen, mithin ein Grundpfeiler unseres noch immer beachtlichen Wohlstands. Wer Werte schafft, hört solche Komplimente durchaus gern, der diskutierenden Klasse sind sie unangenehm.

Da wird dann barsch zurückgewiesen, was freundlich und höflich gemeint war, und der eifernde deutsche Rechthaber, der sich sein schönes Negativbild vom eigenen Land nicht trüben lassen will, steht auf einmal wieder so da, wie er auf gar keinen Fall sein möchte: „typisch deutsch“. So typisch deutsch wie jener nachmalige SPD-Chef Oskar Lafontaine, der als Nachwuchssozialist dem aus der Weltkriegsgeneration stammenden Bundeskanzler Helmut Schmidt entgegenhielt, seine „deutschen Tugenden“ seien „Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ leiten“ könne.

Da ist er, der Holocaust- und Kriegsschuldkomplex, der jedem deutschen Fluchtreflex aus der eigenen nationalen Identität unausgesprochen zugrunde liegt. Im vergifteten Klima der ersten Nachkriegsjahre gaben junge Deutsche, die in der dänischen, niederländischen oder französischen Provinz umherreisten, sich schon mal als „Österreicher“ aus, um Anfeindungen zu entgehen. Der Fluchtreflex hat sich, aller beschworenen Versöhnung zum Trotz, vererbt. Man könnte geradezu eine Psychotypologie der Deutschen aufstellen, je nach den Völkern, in deren Haut man gerne schlüpfen möchte, um nur ja die eigene, mit dem ewig empfundenen NS-Makel behaftete, hinter sich zu lassen: die Atlantiker, die gern die besseren Amerikaner wären, die Zivilisations-Europäer, die sich französisch verfeinert fühlen möchten, die Toskana-Linken, die ganze Landstriche des deutschen Sehnsuchtslandes aufkaufen, die nach Harmlosigkeit gierenden Bullerbü-Deutschen, die Volvo fuhren, um in einem Stück der skandinavischen Heimat von Michel und Pippi vom dritten Weg zu träumen, und nicht zu vergessen diejenigen, die dem eigenen „Tätervolk“ am konsequentesten zu entkommen suchen und sich eine jüdische Ersatzidentität zulegen, sei es als Konvertiten oder auch nur per Künstlername und gesellschaftlichem Engagement.

Man könnte dies als „typisch deutsche“ Grübelei und Selbstbeschäftigung einer in der Seele tief verletzten Nation der allmählichen Selbstheilung überlassen, fände der unterschwellige deutsche Selbsthaß im luftleeren Raum statt und hätte er nicht laufend gravierende politische Konsequenzen. Der wohl fatalste Typus sind jene Deutschen, die aus der deutschen in eine nebulöse europäische Identität zu fliehen versuchen. Dem „großen Europäer“ Helmut Kohl hielt Frederick Forsyth 1997 vor, er habe in einer Rede vor Studenten erklärt, den Deutschen sei nicht zu trauen, weshalb die „europäischen Freunde“ sie fesseln und wirtschaftlich anbinden sollten, damit sie sich nie wieder losreißen und einen europäischen Krieg anzetteln könnten.

Deutschlands politische Eliten sind vermutlich die einzigen in Europa, die tatsächlich an die Überwindung des Nationalstaats durch „Vereinigte Staaten von Europa“ oder dergleichen glauben. Die Opfer, die sie dafür zu bringen bereit sind, von der allzu bereitwillig aufgegebenen eigenen Sprache bis hin zu Währung und Wohlstand, werden gern angenommen, die ersehnte Erlösung vom Deutschsein wird trotzdem nicht gewährt. Wenn es ernst wird, winkt doch wieder die „ewige“ deutsche Schuld, um den Deutschen zusammenzucken zu lassen.

Den Reflex nutzen nicht nur griechische Demagogen, sondern auch aggressive Jungorientalen, die wissen: Wer „Nazi“ sagt, hat die deutsche „Kartoffel“ schon geistig entwaffnet und darf obendrein auf öffentliches Verständnis hoffen. Vom freudig begrüßten Einwanderer als „Scheiß-Deutscher“ geschmäht zu werden, ist Migrantensalz in die Identitätswunde des guten Deutschen, der doch gerade keiner mehr sein wollte und sich vom Multikulturalismus die finale Befreiung von der Last der nationalen Identität erhofft hat.

Hundert Jahre nach der Geburt des „häßlichen Deutschen“ aus dem Geist der britischen Kriegspropaganda sollte es an der Zeit sein, Schuldkult und Nationalneurosen allmählich abzustreifen. Die unangenehme Seite des „typisch Deutschen“ ist heute der Schuldstolz, der sich lustvoll selbst an den Pranger stellt, wo andere längst differenzierter hinschauen. Nicht jeder sieht in uns noch immer den ewigen „Nazi“, wenn wir diesen nicht selbst beständig kultivieren, instrumentalisieren und ausnutzen lassen. Ein Volk, das sich weigert, in das 21. Jahrhundert mit einer gefestigten Identität zu gehen, wird das Ende dieses Jahrhunderts vielleicht nicht mehr erleben.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen