© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Die Summe kleiner Halb- und Unwahrheiten
Gesellschaftspanorama: Uwe Kolbe hat mit „Die Lüge“ einen autobiographisch grundierten Roman über die Kulturszene in der DDR und das Stasi-Milieu vorgelegt
Thorsten Hinz

Ein Titel wie „Die Lüge“ kündigt große, existentielle Fragen an. Beispielsweise die Frage nach der entscheidenden Weichenstellung, die das Leben aufs falsche Gleis gezwungen hat, die Frage nach dem ursächlichen Irrtum, der immer neue Irrtümer gezeugt hat und zur Schlußbilanz führt, daß ein richtiges Leben im falschen halt unmöglich war. Solche kardinalen Irrtümer werden im Leben und in der Kunst vorzugsweise von Familien- oder politischen Konstellationen oder einer Synthese aus beiden verursacht. Doch wie schwer ist es, dabei nicht in Klischees zu verfallen. Erst recht, wenn es um die DDR geht, die bis heute als die falsche Alternative zur richtigen, mit sich selbst identischen Bundesrepublik persifliert wird.

Hinrich Einzweck, der vor Jahren die Familie verlassen hat, klingelt unerwartet an der Tür seines Sohnes Harry. Der steht am Beginn einer vielversprechenden Komponistenkarriere. Nach wenigen Seiten ist klar, daß Hinrich ein Hallodri, aber einer von der netten Sorte ist. Außerdem ist er ein DDR-Kulturfunktionär und ein Stasi-Mitarbeiter, der nichts dabei findet, den Sohn informationell anzuzapfen. Also doch bloß wieder das Stasi-und-Mauer-Klischee?

Nun, die DDR – im Roman als „Nordost“ verfremdet – kann gar nicht glaubhaft beschrieben werden, ohne die Stasi und die Mauer zu erwähnen. Sie hätte ohne deren stete Präsenz und stumme Drohung gar nicht existieren können. Sie haben das Zeug zum universellen Gleichnis. Die Frage ist, ob ein Künstler sie meistert.

Deutsch-deutscher Gesellschaftsroman

Uwe Kolbe, Jahrgang 1957, hat sie gemeistert. Von Haus aus ist Kolbe Lyriker. Mit 22 Jahren brachte er seinen ersten Gedichtband „Hineingeboren“ heraus. Franz Fühmann, der große Schmerzensmann der DDR-Literatur, begrüßte ihn mit den Worten „Ecce poeta – siehe, da ist ein Dichter!“ 1988 reiste Kolbe in die Bundesrepublik aus. „Die Lüge“ ist sein erster Roman. Er ist autobiographisch getönt. Sein Vater war tatsächlich ein Stasi-Informant gewesen, der den Sohn ausgehorcht hatte.

Über das einschlägige Milieu sind in den 1980er und 1990er Jahre mehrere populäre Romane entstanden. In Thomas Brussigs „Helden wie wir“ erschienen die DDR und ihr Geheimdienst als herbe Varianten der Spaßgesellschaft. Das war legitim, denn von Dämonen befreit man sich, indem man erst einmal laut über sie lacht. Der Roman „Magdalena“ des Bürgerrechtlers und Stasi-Opfers Jürgen Fuchs war eine Philippika gegen die „Landschaften der Lüge“, die bis in das vereinte Deutschland reichen. In Wolfgang Hilbigs „Ich“ war die Realität zur kafkaesken Simulation des Mielke-Ministeriums geschrumpft. Und im Spitzel-Roman „Tallhover“ legte Hans Joachim Schädlich die Disposition und Kompensationsbedürfnisse des die Zeiten überdauernden Denunzianten-Typus offen.

Kolbe fügt eine fünfte Variante hinzu. Er beschreibt das Unspektakulär-Alltägliche der Tätigkeit, und zwar in einem Plauderton, der einen zuerst zum Lachen reizt, auf den zweiten Blick aber bedrückt. Hinrich Einzweck fühlt sich durchaus nicht beschränkt und irgendwie kompensationsbedürftig. Er empfängt ein gutes Gehalt, unternimmt viele Dienstreisen – sogar in den Westen –, die Kultur, die er bearbeitet, interessiert ihn aufrichtig, und sein Charme und sein Frauenverschleiß sind beträchtlich. Er führt „ein nach seinen Maßstäben unabhängiges, freies Leben“ und fühlt sich auf der „Überholspur“.

Dieser sonnige Erfolgsmensch hätte auch im westlichen Kultur- und Medienbetrieb seinen Weg gemacht. Er dünkt sich durchaus liberal. Sicher, wer gefördert werden und Stipendien will, muß mit der politischen Generallinie weitgehend übereinstimmen. Ist die grundsätzliche Übereinstimmung erst einmal gegeben, ist der Binnenpluralismus beträchtlich.

Das hat auch Sohn Harry begriffen. Er ist maßvoll widerständig, versucht den Armeedienst zu vermeiden und parodiert sogar die Arbeiterlieder, die den obersten Parteifunktionären so sehr ans Herz gewachsen sind. Doch selbst im Zorn reagieren die Instanzen pluralistisch: Der Staatsanwalt droht, während die mütterliche Kulturfunktionärin bitter über ihr enttäuschtes Vertrauen klagt, so daß Harry fast ein schlechtes Gewissen bekommt, und von dritter Seite erhält er einen – zwar bescheidenen – öffentlichen Auftrag: Sowenig man ihn fallenlassen und an den Westen verlieren will, sowenig ist Harry am totalen Bruch interessiert.

„Die Lüge“ ist nur vordergründig ein Roman über die Stasi, es ist zugleich ein Familien-, Generationen-, Künstler- und deutsch-deutscher Gesellschaftsroman. Es gibt nicht die eine große Lüge beziehungsweise Fehlentscheidung. „Die Lüge“, das ist die Summe der kleinen Halb- und Unwahrheiten, der situativen Irrtümer und unauflöslichen Konflikte, die sowohl familiär als auch historisch determiniert sind.

Anspielungen auf reale Personen sind oft neckisch

Mit knappen Strichen deutet Kolbe den politisch-historischen Hintergrund der deutschen Teilung an. Hinrichs Familie wohnte im Westteil Berlins, der Vater war NS-Journalist und nach 1945 mit dem Odium des Geschlagenen behaftet. Um der väterlichen Beschämung zu entkommen, meldete der Sohn sich zur Fremdenlegion, wo Deutsche als „Bastards“ angesprochen wurden. Er desertierte, Hamburger Kommunisten verhalfen ihm zur Flucht in die DDR, die ihn aufnahm und förderte. Das stiftete eine Loyalität, die viel mehr war als die vielzitierte „Antifaschismus-Falle“. Sie überlagerte die anderen Loyalitäten, ohne sie gänzlich aufzuheben. Die Lüge ist nicht total, die Observation des Sohnes schließt die Sorge um ihn ein. Das Private wird durch die Institutionen verfremdet, doch mildert das Private auch die institutionellen Zwänge. Aus dieser Dialektik ergibt sich das familiäre Beziehungsgeflecht, das selbst die Systemopposition mit den Systemträgern verband. Am Ende sieht der Sohn ein, daß er mit dem Vater viel mehr gemein hat, als ihm lieb sein kann.

Der Roman ist aus der Perspektive der Jahrtausendwende geschrieben. Er schlägt den Bogen bis zum 17. Juni 1953 und zur Biermann-Ausbürgerung 1976 und wieder vor in die Schlußphase der DDR. Wer mag, kann ihn als Schlüsselroman über die Künstlerszene der DDR lesen, wobei manche Personen unter Klarnamen, die anderen unter Pseudonym figurieren.

Sebastian Kreisler, der väterliche Mentor des Ich-Erzähler, ist nach einer Romanfigur von E.T.A. Hoffmann benannt und eine Hommage an Franz Fühmann, der ein Bewunderer Hoffmanns war und viel zu dessen Wiederentdeckung beigetragen hat. Atmosphärisch dicht und amüsant sind die Schilderungen der Prenzlauer-Berg-Boheme. Die Ähnlichkeiten mit der Beschreibung der West-Berliner Kreativszene in Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ sind gewiß kein Zufall.

Doch hat der Roman auch etliche Schwächen. Die Anspielungen auf reale Personen sind oft bloß neckisch und ohne dramaturgische Funktion. Das Vineta-Motiv, das Kolbe anschlägt, erschließt sich nur, wenn man mit seinen Gedichten und Essays vertraut ist und weiß, daß die Berliner U-Bahnlinie, die den Prenzlauer Berg durchquert, seinerzeit an der Station Vinetastraße endete. Die Stilisierung des Vater-Sohn- zum mythischen Hildebrand-Hadubrand-Konflikt wirkt aufgesetzt. Als größte Schwäche aber erweist sich, daß Kolbe, anstatt über sein ureignes Sujet, die Literatur, zu erzählen, seine Hauptfigur als Komponisten verkleidet hat. Thomas Mann stand, als er die musiktheoretischen Passagen des „Doktor Faustus“ verfaßte, kein Geringerer als Theodor Adorno beratend zur Seite. Kolbe hingegen teilt bloß Schulbuchwissen mit, das keinerlei Assoziationsräume eröffnet.

Trotzdem ist der Gesamteindruck positiv. Es ist dem Autor gelungen, das DDR- und Stasi-Milieu dialektisch aufzuheben, indem er in ihm größere, allgemeinere, existentielle Fragen spiegelt.

Uwe Kolbe: Die Lüge. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014, gebunden, 383 Seiten, 21,99 Euro

Foto: Liedermacher Wolf Biermann (2.v.r.) im September 1990 vor einem Protesttransparent während der Besetzung des Hauptquartiers des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR in Berlin-Lichtenberg

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