© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Hochgelobt und vogelfrei
Kollektivschuldthese widerspricht dem Geist des Grundgesetzes / Betrachtung zum Verfassungsjubiläum
Konrad Löw

Am 23. Mai 1949 ist das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ in Kraft getreten. Die Präambel beginnt mit den markanten Worten: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen (...) hat sich das Deutsche Volk (...) dieses Grundgesetz gegeben.“ Und dann, schier unübertrefflich an Strahlkraft, die ersten Sätze von Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

In den 65 Jahren, die seitdem vergangen sind, gab es 59 Verfassungsänderungen. Der zitierte Text wurde nicht angetastet. Er genießt allgemeine Wertschätzung über die Grenzen Deutschlands hinaus. Doch Ruf und Ehre derer, denen wir das Grundgesetz verdanken, werden immer mehr beschädigt.

Darüber, was der zitierte Artikel 1 gebietet und verbietet, läßt sich trefflich streiten. Sicher mißbilligt er, wenn einzelne oder gar ein Kollektiv leichtfertig oder wider besseres Wissen mit schwerer Schuld beladen werden. Besonders makaber ist es, wenn auch jene die Opfer sind, denen wir Deutsche das eben zitierte feierliche Bekenntnis zur Menschenwürde als oberstem Verfassungswert verdanken. Davon soll anhand aktueller Fälle ganz konkret die Rede sein.

Anläßlich von 75 Jahren Reichspogromnacht vom 9. November 1938 brachte der Bayerische Rundfunk ein Hörspiel. Darin wird zutreffend berichtet, daß die Münchner Hauptsynagoge auf Hitlers Geheiß bereits im Sommer jenes Jahres abgerissen werden mußte. Dann: „Schlimm ist, wie wir da alle standen, wie am 8. Juli 1938 die Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße zerstört wurde. (...) Wir Juden (...) mit Tränen in den Augen. Und das Volk ringsum johlte, freute sich und klatschte.“

Wer dies hört, kann schwerlich umhin, dieses „Volk“ zu verachten. Wer dennoch nachfragt, ob diese Niedertracht irgendwie belegt ist, wird vom Rundfunk auf ein Interview mit Henny Seidemann verwiesen, das sich im Stadtarchiv München befindet. Darin steht der Satz: „Kurz nach der Zerstörung der Synagoge verließ ich zum zweiten Mal Deutschland.“ Mehr nicht. Exakt belegt sind jedoch die Beobachtungen des Studenten Erich Ortenau: „In der Menge, die stumm zusah, konnte man kein Zeichen der Zustimmung verspüren. Ein beklommenes Schweigen ging von ihr aus.“

Goebbels beklagte, daß die Masse zu zurückhaltend war

Auch Hermann Klugmann, Jude wie Ortenau, mischte sich unter die Zuschauer: „Ich habe an den Mienen der meisten Menschen, die den Abbruch der Synagoge beobachtet haben, entschiedene Mißbilligung gelesen. (...) Als ich an einem dieser Tage in der Abendstunde von der halb niedergerissenen Synagoge wegging, gesellte sich ein Mann zu mir (...) Er sagte zu mir: ‘Sie gehören doch auch zu der jüdischen Gemeinde?’ Als ich sehr zögernd antwortete, meinte er: ‘Haben Sie keine Angst, wir Katholiken fühlen mit Ihnen’ und entfernte sich.“ Andere Beobachtungen gibt es offenbar nicht. Die so belastenden Sätze des Hörspiels sind offenbar reine Phantasieprodukte. Sind unsere Vorfahren vogelfrei?

Rechtzeitig zum 9. November 2013 schrieb Raphael Gross, Leiter des Leo- Baeck-Instituts in London, Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main und des Fritz-Bauer-Instituts, ein Buch, in dem er die Vorgänge von damals ausführlich schildert. Im Prolog heißt es: „Niemals zuvor oder danach standen Hunderttausende Jüdinnen und Juden einer derart aufgehetzten Bevölkerung gegenüber und mußten Schläge und Erniedrigung, Totschlag und Mord (...) erleiden.“

Die meisten Leser werden diese Behauptungen als traurige Tatsachen einfach hinnehmen. Doch manch einer möchte gerne wissen, woher Gross seine Informationen bezieht. Statt eines Nachweises im Buch wird das Zitierte mit anderen Worten wiederholt. Dabei gibt es zuverlässige Berichte aus allen Teilen des Reiches und aus allen Schichten der Bevölkerung, insbesondere auch von Juden, die gegenteilig eher Anteilnahme beobachtet haben, so daß Joseph Goeb-bels als einer der Hauptverantwortliche des Pogroms damals zu der Einsicht kam: „Die Masse der Bevölkerung, die nicht in der Kampfzeit und auch späterhin nationalsozialistische Zeitungen regelmäßig gelesen hat, hat damit nicht die Aufklärung erfahren, die für die Nationalsozialisten im Kampf ohne weiteres gegeben war.“

War es im ersten Fall der Bayerische Rundfunk, eine Anstalt des öffentlichen Rechts, der die Verleumdung sanktioniert hat, so im Falle Gross die Katholische Akademie München, wo er am 28. Oktober 2013 in einem eigenen Vortrag seine Sicht darlegen durfte. Widerspruch wurde abgeblockt. Dabei stand im Programm ausdrücklich: „20.30 Uhr Diskussion“. Vor allem kirchliche Einrichtungen sollten keinen Beitrag dazu leisten, daß sich historische Irrtümer immer noch weiter verbreiten zu Lasten der Deutschen, unserer Vorfahren. „Du sollst Vater und Mutter ehren!“

Unter der Überschrift „Staunende Erinnerung“ berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 13. November 2013 über eine Begegnung mit Otto Dov Kulka von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Laut FAZ vertrat er bei der Begegnung die Ansicht: Die von ihm herausgegebenen geheimen Stimmungsberichte der insgesamt 752 NS-Überwachungsorgane zeigten, „daß die Deutschen der Deportation der Juden in den Osten nicht nur gleichgültig gegenüberstanden, sondern diese ‘Abschiebung’ befürwortet haben. Obgleich die Mehrzahl wußte, was mit den ‘Abgeschobenen’ im Osten passiert.“

Widerspruch gegen diese atemberaubende Behauptung fand dann nur unter den Leserbriefen statt. „Keiner der Stimmungsberichte eignet sich aus meiner Sicht als Beweis für diese pauschale Anschuldigung.“ Kulka antwortete brieflich und zitierte ausführlich einen Bericht. Aber er verfälschte ihn durch Umstellung von Sätzen. Richtig wiedergegeben lautet der Bericht: „Obwohl diese Aktion von seiten der Staatspolizei geheimgehalten wurde, hatte sich die Tatsache der Verschickung von Juden doch in allen Bevölkerungskreisen herumgesprochen. (...) Es muß festgestellt werden, daß diese Aktion vom weitaus größten Teil der Bevölkerung begrüßt wurde. (...) Lediglich aus konfessionellen Kreisen wurden, wie bei allen staatlichen Aktionen zur Gewohnheit geworden, ablehnende Stimmen laut.“ Beweist dieser Text, was bewiesen werden soll? Nein! Daher wird manipuliert. Aus den „wildesten Gerüchten“ über die Ermordung der Juden, von Christen ausgestreut, macht Kulka das Wissen aller, das „vom weitaus größten Teil der Bevölkerung begrüßt wurde“.

Wie die Beispiele verdeutlichen, wurde innerhalb weniger Tage von drei verschiedenen Seiten die im Kern gleiche Anschuldigung gegen eine ganze Generation erhoben, der auch die Verfassungsväter angehörten. Die Vorwürfe stammen nicht aus einem bedenklichen Milieu, sind vielmehr verknüpft mit respektablen Namen: Bayerischer Rundfunk, Katholische Akademie, Hebräische Universität von Jerusalem. Da die Anschuldigungen aus der Luft gegriffen sind, zum Teil auf Fälschungen beruhen, bleibt nur der Schluß, daß die Würde der Angeschuldigten nach Meinung tonangebender Kreise kein beachtliches Schutzobjekt mehr ist, daß die „korrekte Weltsicht“ wichtiger ist als die richtige, daß die Menschen von damals, was ihre Ehre anlangt, vogelfrei sind.

 

Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er ist Autor des Werkes „Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen“ (Olzog Verlag, München 2010)

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