© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Telekolleg für jedermann
Von Aalräuchern bis Zündkerzenwechseln: Youtube-Tutorien erklären in Bild und Ton, wie’s geht
Bernd Rademacher

In den prähistorischen Zeiten des Drei-Kanal-Fernsehens strahlten die dritten Programme „Telekolleg“-Sendungen aus, mit denen die Zuschauer Mathe oder Englisch lernen konnten. Heute sind Tutorial-Videos auf Youtube das Telekolleg für jedermann – und alles andere als verschnarchtes Fernsehstudium.

Zu beinahe jeder Frage findet man eine Fülle von Anschauungsfilmen, zum Beispiel „Wie pfeift man auf zwei Fingern?“ oder „Wie baut man eine (verbotene) Kartoffel-Kanone?“ Wer sich früher von Vati erklären lassen mußte, wie man eine Krawatte bindet, klickt heute einfach eines der zahlreichen Demo-Videos an.

Auch der Musikunterricht findet vor dem Rechner statt. Zumindest teure Gitarrenstunden kann man sich sparen: Von Abba bis ZZ Top wird einem fast jeder bekannte Song Griff für Griff beigebracht – und man kann sich auch noch aussuchen, ob man sich sein Lieblingsriff von einem Rockmusiker aus Kentucky oder einem Schulmädchen aus Japan vorspielen lassen möchte.

Wer zwei linke Hände hat, muß sich nicht mehr von Handwerkern von oben herab mit Fachchinesisch schikanieren lassen („Sie brauchen ersma ’ne 20er Flanschmuffe ...“), sondern findet auf Youtube Anleitungsvideos zum Zementmischen, Kugellagerwechseln oder Rohrverlegen.

Rezept vergessen oder Kochsendung verpaßt? Das Videoportal ersetzt auch das Kochbuch. Profis und private Hobbyköche „haben schon mal was vorbereitet“, beispielsweise wie das Steak garantiert gelingt oder ein Spanferkel gegrillt wird.

Auch für alltägliche Haushaltsfragen müssen Junggesellen nicht mehr Mutti anrufen. Youtube zeigt, wie man Spannbettücher faltet (eine Wissenschaft für sich!), wie man eine Nähmaschine fachgerecht bedient oder mit welchen Tricks Fenster ganz einfach sauber werden: mit Salmiakgeist auf dem nassen Lappen abschrubben und mit zerknülltem Zeitungspapier trockenreiben – streifenfrei.

Mit „Let’s play“ entstand ein eigenes Youtube-Genre

Selbst der Sportunterricht ist online: Selbstverteidigungskurse, Aerobic-Videos, Fitneß-Ratgeber bis hin zu Anleitungen für den Reenactment-Schwertkampf werden von Nutzern hochgeladen. Von Trendsportarten wie Downhill-Biking bis zum guten alten Schach-Anfängerkurs (Teil 1 bis 6) gibt es nichts, was es nicht auf Youtube gibt: Motorrad fahren, mit einer Kettensäge hantieren, ein Wildschwein „aus der Decke schlagen“ oder was sonst im Haushalt anfällt – engagierte Mitmenschen zeigen in ihren Schulungsvideos, wie man’s macht. Wie man „es“ macht, kann man dort auch lernen, aber: Was gibt’s da eigentlich zu können!?

Sogar durch Computerspiele muß man sich nicht mehr selbst von Level zu Level plagen. Geübte jugendliche Experten demonstrieren in abgefilmten Sitzungen, wie sie Nintendo oder Lego-Games zocken. Damit ist ein ganz eigenes Youtube-Genre entstanden, das „Let’s play“ genannt wird. Spielprofis wie Dominik und Juli vom Kanal Domtendo bekommen die Spiele, die sie vorführen, von den Herstellern vor der Markt-einführung zur Verfügung gestellt.

Kann man sein Handy im Mixer pürieren? Wie bringt man mit Pfefferminzbonbons eine Colaflasche zum Explodieren? Natürlich ist Youtube auch voll mit Unfug, den man besser nicht nachmachen sollte. Schon gar nicht, wie man einen Bürostuhl mittels Rasenmähermotor zum Renngefährt macht oder ähnlichen Wahnsinn.

Besonders die hausgemachten Amateurfilme entbehren manchmal nicht einer unfreiwilligen Komik. Sprachfehler, unmögliche Frisuren oder Wohnungen im „Gelsenkirchener Barock“ werden ungeniert der Weltöffentlichkeit präsentiert. Wer das Kommentieren seines Kanals zuläßt, muß dafür die Häme der Nutzergemeinschaft ertragen.

Vielleicht deshalb hat ESC-Gewinner Conchita Wurst die Kommentarfunktion für seinen Youtube-Kanal deaktiviert. In einer Schritt-für-Schritt-Anleitung zeigt er/sie Schminktips für das perfekte Wurst-Make-up. Das Video hat bereits rund eineinhalb Millionen Aufrufe.

Fotos: Wurst-Produktion mit Thomas Neuwirth: Der Umgang mit dem Kajalstift ist für einen Mann nicht so einfach...; Fernkurs in Nähen (o.): Feine Stiche für Selbstgefertigtes; Die richtige Technik beim Fechten (r.): Fertigkeiten hieb- und stichfest machen; Radlager zusammenbauen: Damit alles wie geschmiert läuft

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