© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/14 / 23. Mai 2014

Der Flaneur
Im Wirbel der Verwahrlosung
Volker Lenz

Berlin, Freitag, 16. Mai 2014. Durchwachsenes Wetter. Die liebe Sonne im Stundentakt von Wolken und Regenschauern bedrängt. Den Vormittag mit dem Elektriker verbracht, der in meiner Altbauwohnung einen explosiven Verteilerkasten ersetzt. Der Mann kommt aus Potsdam, staubtrockenes Naturell. Lautlos arbeiten wir parallel, ich lese Korrekturen, er verlegt Leitungen. Ist pünktlich nach drei Stunden fertig, wie angekündigt. Deutsche Meisterlichkeit.

Anschließend hurtig in die U-Bahn, am Zoo ausgestiegen. Durch Menschenströme Richtung Tauentzien. Viele junge Frauen, adipös stramme Schenkel schwarz strumpfbehost. Pulks gackernder Holländerinnen, parfümelnd. Dazwischen mich en passant bereichernde orientalische Horden, vorwiegend üppig. Nie ohne elektronische dritte Hand, Knöpfe im Ohr. Bei P&C wuseln fast nur Frauen. Im vierten Stock, der Herrenabteilung, hingegen mehr Verkäufer als deutsche Silberrücken.

Gehampel auf Rollbrettern, umrahmt von akustischem Sondermüll aus tragbaren Radios.

Rückmarsch im Wirbel der Verwahrlosung. Auf der anderen Straßenseite des Ex-Boulevards, an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche entlang. Touristen, westfälisch gedehntes Idiom, schwäbisches Gebabbel. Bodenständiger Spott über bizarres Gehampel auf Rollbrettern, umrahmt von akustischem Sondermüll aus tragbaren Radios. Halte bettelnde Zigeunerinnen mit knappen Fingerzeigen auf Distanz.

Im Kopfkino derweil ein Mix aus Lektüren und Gesprächen. Das Ehepaar Horstmann, ihr Pied-à-terre am nahen Steinplatz in exotischen Zauber hüllend. Das Vogelservice 1943 unbekümmert um viermotorig angereiste Mordbuben aufgelegt, dazu in filigranen Holzkäfigen Kolibris, entliehen aus dem Botanischen Garten. Die Eleganz des Tauentzien in den Dreißigern. Und dort federndes Informsein des „verwegenen Berliner Menschenschlags“ (Goethe) selbst noch im trizonesischen Wirtschaftswunder.

Am Zoo den Bus Richtung Flughafen Tegel erwartend. Auf dem Bordstein, den Rücken zu den Schlangen vor „Curry36“, uriniert ungeniert ein Höhlenmensch. Zwei Polizisten schauen ihm zu.

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