© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Gaucks Girlanden
Integration: Auch für ein „neues deutsches Wir“ muß definiert werden, wer dazugehört
Michael Paulwitz

Wer ist „wir“? Das Wort ist in aller Munde – die Sozialdemokraten wollen das „Wir“ sogar entscheiden lassen, natürlich nur mit der SPD als Gouvernante, und der Bundespräsident gaukelt uns sogar, von pastoralen Girlanden umwunden, ein „neues deutsches Wir“ vor. Die entscheidende Frage dahinter, nämlich die nach der Identität und dem Identifikationsrahmen, beantwortet freilich keiner der „Wir“-Sager.

Bereits das nebulöse „Wir“ ist ein Eiertanz, der sich um den Kern der Sache drückt. Gaucks neues deutsches Wir-Gefühl „nannte man früher wohl Nationalgefühl“, bemerkt Jasper von Altenbockum zutreffend in der Frankfurter Allgemeinen; neu daran sei eigentlich nur, daß man es nicht mehr so nenne. Eine Neurose, die sich ein modernes Land im Grunde gar nicht leisten kann. Denn auch ein „Einwanderungsland“, als das die politische Klasse Deutschland gerne haben möchte, braucht die Nation als Identitätsbegriff. Von Einwanderern in die USA, Kanada oder Australien erwartet das Aufnahmeland selbstverständlich, in der Nation anzukommen und nicht nur auf dem Territorium oder im Sozialsystem – das in echten Einwanderungsländern übrigens absichtsvoll klein gehalten wird.

Die linke Soziologen-Kopfgeburt des „Verfassungspatriotismus“ ist ebenfalls kein Ersatz für ein Nationalbewußtsein. Daran ändert auch der Wiederbelebungsversuch des Orientalisten Navid Kermani in seiner eigenartigen Festrede zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes nichts. Einwanderer sollten die Freiheit deutlicher schätzen, „an der sie in Deutschland teilnehmen“, ist Kermanis dürre Hauptbotschaft zur Integration.

Der durchschnittliche Einwanderer dürfte indes mit den „Tränen des Stolzes“, die der Sohn iranischer Emigranten für das sich schämende und demütige Deutschland zu empfinden vorgibt, wenig anfangen können. Solche Sätze kommen einem wohl erst über die Lippen, wenn man bereits in der politischen Klasse mit ihrem verinnerlichten nationalen Selbsthaß angekommen ist.

Moderne westliche Staaten sind Sozialstaaten. In solchen geht es nicht nur um Freiheit und Bürgerrechte und die Schönheit von Verfassungstexten, sondern ganz konkret und handfest ums Teilen und Umverteilen. Einwanderung und europäische Reise- und Niederlassungsfreiheit stellen die Frage nach den Grenzen der Solidargemeinschaft. Je weiter ein Gemeinwesen seine Grenzen öffnet – dem Verfassungspatrioten Kermani sind selbst die aktuellen deutschen Rekord-Asylzahlen noch zu wenig –, desto weitgehender ist es gezwungen, seine Ressourcen zu teilen – potentiell mit der ganzen Welt.

Daß dies in letzter Konsequenz unmöglich ist, sollen die bestehenden Sozialsysteme nicht ad absurdum geführt und gesprengt werden, ist handelnden Politikern jenseits aller Festreden durchaus bewußt. Auch der Bundeskanzlerin; ihre markige Ansage, die EU sei „keine Sozialunion“, und man wolle „Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten“, wurde zwar vor der Folie des Wahlkampfdrucks von seiten der EU- und Euro-Kritikern gemacht, steht aber vor dem Hintergrund der harten Zahlen und Fakten.

Freilich sind die neun Merkel-Kanzlerjahre voll von roten Linien, die beim ersten Widerstand sang- und klanglos geräumt wurden. Daß zuvor auch der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) den Hartz-IV-Anspruch arbeitsloser EU-Bürger negiert hat, die ausschließlich zum Bezug von Sozialhilfe einreisen, mag immerhin ein Lichtblick für das bevorstehende EuGH-Verfahren sein. Auch ein für Deutschland günstiges Urteil sagte allerdings noch nichts über die praktische Durchführbarkeit in einem Europa ohne Grenzen.

Eines hat die Debatte über Armutseinwanderung in jedem Fall geleistet – sie hat auf dem Umweg über die Frage nach den Grenzen der Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft zugleich die Frage nach dem Selbstverständnis der Nation wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Fehlt nur noch die Antwort. Der Bundespräsident gibt sie nicht; sein Anlauf erstickt in vorgestrigen Vielfalts-, Bereicherungs- und Schönfärbephrasen. Auch ein „neues deutsches Wir“ wird nicht denkbar sein, ohne zu definieren, wer dazugehört und wer nicht, ohne also von „wir“ und „denen“ zu sprechen, was Gaucks Multikulti-Phrasendreschmaschine als überholt brandmarkt. Das großzügige Verteilen von deutschen Pässen zu Sonderkonditionen reicht dafür nicht.

Gauck leistet sich den fundamentalen Widerspruch, die Überwindung des Abstammungsprinzips im Staatsbürgerschaftsrecht für die Deutschen als Fortschritt zu preisen, während er es für die Türken reklamiert. Nichts anderes steckt hinter dem Plädoyer für den Doppelpaß als angeblichen Integrationsbringer: Türkischen Einwanderern soll nicht zuzumuten sein, auf den ihnen nach Blutsrecht zustehenden türkischen Paß zu verzichten, um Teil des deutschen „Wir“ zu werden.

Die Perspektive sollte umgekehrt sein: Integration funktioniert erst dann, wenn seitens der zu Integrierenden der Wille vorhanden ist, über die Generationen auch Teil der deutschen Abstammungsgemeinschaft, des deutschen Volkes zu werden. Der türkische Regierungschef Erdoğan, der die Kontrolle über seine ausgewanderten Landsleute bis ins dritte und vierte Glied behalten möchte, mag das noch so sehr als „Assimilation“ verteufeln: Es ist der einzige Kitt, der aus einer beliebigen „Gesellschaft“ eine Nation mit jenem Mindestmaß an Homogenität macht, das sie auch in Krisen zusammenhalten läßt.

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