© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Grüße aus Tokio
Tacheles in der Mittelschule
Albrecht Rothacher

Normalerweise sind Besuche in japanischen Schulen eine deprimierende Angelegenheit. Die Schüler sind zwar wohlerzogen, höflich und fleißig, die Lehrer ernsthaft und würdevoll bei der Arbeit. Doch die Gebäude und Anlagen sind halbleer, so stark wirkt der Geburtenrückgang. Die Schulen sind zwar weiter sauber – übrigens von den Schülern selbst am Nachmittag nach Schulschluß gesäubert –, doch wirken sie unübersehbar in die Jahre gekommen.

In Mitaka ist alles anders. Die Vorstadt Tokios habe ich vor 30 Jahren als Student noch mit Obsthainen, Reis- und Gemüsefeldern erlebt. Die meisten Häuser waren aus Holz. Ausländer hatten Seltenheitswert. Jetzt ist nichts wiederzuerkennen. Die städtische Mittel- und Oberschule ist ultramodern, erst im Vorjahr erbaut und dank des Zuwachses an Einwohnern auch voller Schüler.

In Japan muß Fehlverhalten sanktioniert werden. Manchmal milde, manchmal streng.

In der Mittelschulmensa geht alles sehr proper zu, das Essen wirkt sehr gesund. Alles steht artig auf, um den Gast mit Verbeugungen zu grüßen. Am frühen Nachmittag finden freiwillige Klubaktivitäten statt. Es werden ein Kammerkonzert, Kendo-Gefechte einer Mädchentruppe, Bogenschießen und eine Teezeremonie vorgeführt.

Als ich mit dem Direktor die Schule durchstreife, grüßen die Schüler freundlich. Schließlich soll ich vor 160 Schülern der mittleren Jahrgänge einen Vortrag zur EU halten – nicht gerade ein Alltagsthema. Dann die Fragestunde: Warum die EU mit der Türkei weiterverhandle, obwohl das Land kein Interesse an der Mitgliedschaft habe?, Warum fördere die EU die Immigration, wenn die Abwanderung der Besten und Jungen die Herkunftsländer schädige? Und: „Warum wurde Griechenland nicht aus Euro-Zone und EU geworfen, nachdem die Regierung betrogen und die EU-Gelder veruntreut hat?“

In Japan muß Fehlverhalten sanktioniert werden. Mal milde, mal streng. Es darf nicht folgenlos bleiben.

Die Schüler machen sich offensichtlich ihre eigenen Gedanken. Es soll eine neue, international denkende Generation werden, sagt der Schulleiter. Gleichzeitig sollen sie japanische Traditionen und Geschichte lernen, um sie der Welt zu vermitteln. Auch das scheint die Schule gut zu leisten.

Ich verlasse Mitaka durchaus euphorisch im überfüllten Vorstadtzug. Wenn es Japan gelänge, aus seinen demographischen Problemen auszubrechen, dann könnte es sich mit solchen jungen Leuten weiter an der Weltspitze halten.

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