© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/14 / 30. Mai 2014

Pankraz,
der Buchstabe und die verlorene Schrift

Der Buchstabe tötet, aber die Schrift macht lebendig“, so steht es schon in der Bibel (2. Korinther, 3,6). Die Gelehrten streiten darüber, ob der Apostel Paulus damit wirklich die Schrift im allgemeinen gemeint habe oder speziell nur die „Heilige Schrift“, die Botschaft Gottes und den darin enthaltenen Geist. Doch die erste Version ist wahrscheinlicher, auf jeden Fall aktueller.

Kopfschüttelnd hörte Pankraz, wie eine moderne Mutter ihren kleinen Sohn, der gerade die zweite Klasse besucht, fragte: „Was habt ihr denn heute geschrieben?“ Und der Knirps antwortete: „Wir haben nicht geschrieben, wir haben gedruckt.“ Es kam heraus, daß den Kindern in dieser Schule tatsächlich nicht mehr „das Schreiben“ beigebracht wird, sondern „das Drucken“. Sie lernen die Buchstaben kennen und wie man sie zu Wörtern zusammensetzt, aber „schreiben“ lernen sie dabei ausdrücklich nicht. Es gibt für sie keine Schrift im alten Sinne mehr, sondern nur noch Tastaturen, die man „bedient“.

Besagter Knirps ist im Besitz eines Laptops, auf dem er im Nu Wörter auf die Projektionsfläche tippt. Auch auf dem Papier kann er schon recht gut „schreiben“, aber nur in „Buchstabenschrift“. Jeder Buchstabe ist ein kleines Bild für sich, das unverbunden neben den anderen steht. Die einzelnen Wörter erkennt man daran, daß die Abstände zwischen ihnen größer sind als die zwischen den Buchstaben. „Das soll auch so bleiben“, erklärt die Mutter. Ob die Schüler die Buchstaben später irgendwie miteinander verbinden, bleibt ganz ihnen überlassen.

Die Sache ist (wegen des „Kulturföderalismus“) von Bundesland zu Bundesland verschieden und oft auch von Schule zu Schule. Es gibt Schulen, die ab der zweiten oder dritten Klasse außer Buchstabenschrift auch „Schönschrift“ lehren, einen Kanon also, wie man die Buchstaben in optimal lesbarer Form miteinander verbindet. Viel hängt zur Zeit auch noch von den einzelnen Lehrern ab. Aber der offizielle Kurs der Kulturbürokratie läuft eindeutig auf eine Abschaffung der „Schönschrift“ hinaus.

Überwiegend wird der neue Trend ganz pragmatisch begründet. „Wer schreibt denn heutzutage noch Handschrift“, wird gefragt, „außer wenn er seine Unterschrift unter irgend etwas setzen muß? Selbst die allerfeinsten Dichter benutzen doch zumindest eine alte Schreibmaschine, wenn sie ihre Gedichte und Erzählungen zu Papier bringen wollen. Und die Jungen sind mittlerweile so an den Apparat gewöhnt, daß sie selbst dann, wenn sie unbedingt einmal mit der Hand schreiben müssen (als Touristen im Ausland etwa), nur noch Einzelbuchstaben von sich geben können.“

Was Pankraz angeht, so war er immer ein schlechter Handschriftenleser, und auch seine eigene „Klaue“ hat sich im Laufe der Jahre leider derart individualisiert, daß sie zum Schrecken der Empfänger geworden ist. „Schick doch eine E-Mail, wenn du schon nicht ordentlich schreiben kannst“, kriegt er zunehmend zu hören. Aber merkwürdig: Er empfängt von Privatpersonen weiterhin lieber handgeschriebene als gedruckte Briefe, auch wenn er sie noch so aufwendig entziffern muß, und seine eigenen verfaßt er meistens in Handschrift, besonders bei existentiell ergreifenden Anlässen, Gratulationen, Beileidsschreiben.

Es gibt offenbar eine spezifische Aura von Würde und Auserlesenheit, die die persönliche Handschrift umweht und auch noch den unbeholfensten oder beiläufigsten Schreiber aus der Masse hervorhebt. Mag sein, daß das aus uralten Zeiten stammt, wo das Schreibenkönnen eher ein Schreibendürfen war, ein Privileg der Mächtigen und Priester, geradezu ein Heiligtum, das unendlich weit über bloßes Sprechen hinausreichte, es regelte und formte. Ein Nachhall dieser Macht existiert offenbar noch heute, und keine moderne Buchstaben-Erzeugungsapparatur kommt dagegen an.

Natürlich waren auch die frühen Gebotstafeln, die Keilschriften der alten Sumerer, die Inschriften an den griechischen oder römischen Tempeln, in Buchstabenschrift, in „Versalien“ abgefaßt, schon deshalb, weil sie in Stein gemeißelt wurden und aus handwerklichen Gründen Vereinfachungen nötig machten. Wir wissen dagegen nicht, mit welchen Schnörkeln und Zusammenziehungen etwa phönizische Kaufleute unter Kaiser Augustus ihre Rechnungen und Warenangebote in den Wüstensand zeichneten; Versalien waren es gewiß nicht.

Bei den prächtigen Inkunabeln der mittelalterlichen Schreibmönche hielten sich Buchstabenschrift und zusammenziehende Schmuckelemente die Waage. In den Lateinschulen der frühen Neuzeit, bei Melanchthon und Calvin wurde dann ganz überwiegend in individueller Schönschrift geschrieben, obwohl – oder vielleicht gerade weil – damals die Druckkunst erfunden wurde. Die Studiosi hatten es eilig beim Abschreiben und privaten Vervielfältigen der vielen neuen Flugschriften und beim Verfassen ihrer eigenen polemischen Kommentare. Schreibende Individualität war gefragt.

Später im wissenschaftlichen 19. Jahrhundert hat sich daraus eine ganze riesige Spezialdisziplin psychologischer Diagnostik entwickelt; die Graphologie, die Lehre von der Handschrift als Ausdruck des individuellen Charakters. Ihre Handschrift sollte verläßliche Auskünfte ermöglichen über faktisch sämtliche Charakterzüge, physische und soziale Eigenheiten einer bestimmten Person. Das Fach faltete sich schnell immer weiter aus, beschäftigte große Gelehrte, schuf im Laufe der Jahre die unterschiedlichsten Schulen, zwischen denen teils hochinterressante, wichtige Diskurse im Gange sind.

Leider wird die Graphologie das erste Opfer der neuen Pädagogik sein. Wenn alle Schüler nur noch Buchstaben drucken oder hinkritzeln, ist kein Platz mehr für Seelenerforschung mittels Schriftanalyse. Schade. Doch was ist mit der persönlichen Unterschrift, die man zur Zeit noch für alle möglichen Amtsvorgänge braucht? Die muß ja in echter Handschrift geleistet werden! Aber künftig macht’s wohl auch ein simpler Fingerabdruck.

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