© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

„Der Tod bittet zum Tanz“
Über 20.000 Besucher strömen zu Pfingsten wieder zum Wave-Gotik-Treffen. Warum feiern Tausende Jugendliche ausgerechnet in Deutschland im Zeichen von Tod und Vergänglichkeit eine der weltgrößten Gotik-Partys? Szeneexperte Alexander Nym gibt Antwort.
Moritz Schwarz

Herr Nym, „der Tod ist ein Märtyrer der Schönheit“, wie die Band Death in June singt. Könnte dies das Motto des Wave-Gotik-Treffens (WGT) sein?

Nym: Pardon, aber die betreffende Liedzeile ist ein Paradoxon, das keinen Sinn ergibt: Tod als Märtyrer? Sprich, der Tod stirbt selbst?

Gemeint ist wohl: Sterben als vollendete – märtyrerhafte – Hingabe an die Schönheit. Ganz im Sinne des Schriftstellers Yukio Mishima, der Muse der Band.

Nym: Ich halte das eher für ein Beispiel für die kryptisch-hermetisch-obskurantistische Cut-up-Lyrik von Death in June-Sänger Douglas Pearce.

Aber geht es beim Wave-Gotik nicht in der Tat um die Verbindung von Jugend und Schönheit mit Tod und Vergänglichkeit? „Ein weißer Leib, so zart und weich / so kostbar, glatt und makellos / auch er versinkt im Schattenreich / auch dich erwartet dieses Los“ singen etwa Subway to Sally.

Nym: Die Szene produziert eben Vorstellungen von Schönheit, die klassischen Idealen mitunter diametral entgegenstehen; augenfälligstes Beispiel ist die Ästhetik des Verfalls und des Morbiden – die „schwarze Romantik“ –, die sich bis hin zu zeitgenössischen Trash- und Zombie-Ästhetiken erstreckt, die mit eher bürgerlich geprägten Vorstellungen von Schönheit wenig gemeinsam haben.

„Der jugendliche Körper ist das einzig begehrenswerte Gut, das die Welt hervorgebracht hat“, schreibt der französische Schriftsteller Michel Houellebecq. Warum beschäftigen sich auf dem Wave-Gotik-Treffen Tausende Jugendliche ausgerechnet mit Verfall, Vergänglichkeit und Tod?

Nym: Gerade weil Jugendlichen und jungen Menschen der Tod weithin als etwas weit Entferntes und Abstraktes erscheint, übt er in seiner universellen (End-)Gültigkeit eine starke Anziehungskraft auf sie aus. Allerdings würde ich nicht so weit gehen, das WGT als Zelebrierung von Tod und Vanitas zu beschreiben. Im Gegenteil: Angesichts eigener Vergänglichkeit und zahlreicher Krisenfaktoren, die eine apokalyptische Grundstimmung auch in den gesellschaftlichen Mainstream zurückgetragen haben, ist das Fazit, das viele „Schwarze“ ziehen, das Diesseits auskosten zu wollen. „Carpe Diem“ ist das Motto, oder mit Blick auf die mehrtägige dunkle Dauerparty zu Pfingsten in Leipzig wohl eher „Carpe Noctem“, und zwar ein durchaus eskapistisches.

Der Autor Michael Klonovsky meint über unsere hedonistische Gesellschaft: „Der Tod ist uncool. Sterben stört die Party.“

Nym: So verkürzt und flapsig würde ich es nicht ausdrücken, und ich sehe zwischen Party machen und der Tatsache des Ablebens auch keinen eklatanten Widerspruch, vielmehr einen sich gegenseitig bedingenden Komplementärkontrast.

Also ist die Verherrlichung der Ekstase in der Szene – Hekate singt vom „Sonnentanz“, Schandmaul vom „Feuertanz“, Subway to Sally vom „Veitstanz“ – kein Widerspruch zu ihrer Morbidität?

Nym: Gar nicht, Freunde treffen, sich gemeinsam berauschen und dabei den jeweiligen Gemeinschaftsriten zu frönen ist eine anthropologische Konstante, der sich auch die Schwarze Szene nicht entziehen kann, und die durch den Schatten des Momentanen und Vergänglichen eher intensiviert wird. Wenn Sie so wollen, ist der Tod als Gast auf dem Fest nicht ausgesperrt; der rote Tod muß sich nicht maskieren, darf beim Tanz auf dem Vulkan nicht außen vor bleiben, sonst wäre der Tanz nur halb so ekstatisch. Tod und Ekstase als Polaritäten menschlicher Erfahrung können diese Erlebnisqualität intensivieren. Eros und Thanatos sind zwei Seiten derselben Medaille.

Nietzsche sagt: „Alle Lust will Ewigkeit“ – liegt hier eine Verbindung zur Ästhetik des Todes, der ja auch eine Ewigkeit ist?

Nym: In dem Zitat liegt die Sinnlosigkeit des Ewigkeitswunsches angelegt, und damit auch die Vergänglichkeit des Momentanen, inklusive der Lust und ihres Verlustes. Was wieder zum „Carpe Diem“ zurückverweist und die Aufforderung darstellt, das Leben gestalterisch in die Hand zu nehmen, zum Kunstwerk zu stilisieren, wie es die Gothics tun, und es in all seinen Facetten zu genießen, solange es uns vergönnt ist.

Einerseits wird in gewissen Liedtexten immer wieder der klaren Rollenverteilung von Mann und Frau gehuldigt. Ein deutlicher Widerspruch zur metro- und multisexuellen Mode unserer Gegenwart, in der die Geschlechter verschwimmen. Andererseits betreibt die Szene mit ihrer romantischen, androgynen und dandyhaften Ästhetik genau das. Wie ist das zu deuten?

Nym: Was für Lieder sollen das sein? Solch reaktionärer Unfug wäre mir sicher aufgefallen.

Vor allem in den Segmenten Mittelalterrock und Neofolk werden Männer konvulsivisch – als Jäger, Krieger, Zeugende – Frauen dagegen ätherisch – als Weib, Vestalin, Muttergottheit – dargestellt.

Nym: Also mit Blick auf die Geschichte der Szene ist das kompletter Unsinn; kaum eine Subkultur hat mehr Prügel eingesteckt, weil sich Jungs schminken und Mädchen die Haare ausrasieren. Seit den Ursprüngen von Glam Rock und New Romantic hat sich die Szene wie keine andere mit der Auflösung, Erweiterung und Überwindung tradierter Gendernormierungen befaßt und fungiert daher als Auffangbecken für allerlei Modelle von Androgynität, Homo-, Pluri- und Pansexualität. Cross-dresser, LGBT-Leute und Fetischisten aller Couleur finden dort eine autonome Toleranzzone, in der sie sich ohne Diskriminierungsrisiko bewegen können. Die jeweilige Nonkonformität ist das alle verbindende Moment. Die Schwarze Szene war und ist Vorreiter selbstbestimmter Entwicklung von Geschlechtlichkeit, gleich in welcher Art und Weise, auch wenn die Titelbilder der kommerziellen Gothic-Blätter mit weitgehend konventionellen Geschlechterinszenierungen aufwarten. „Sex sells“ – auch in der Schwarzen Szene.

Handelt es sich heute bei der Wave-Gotik-Kultur in dieser Hinsicht also nicht um eine Gegen-, sondern um die Spitze der neuen halbstaatlichen Genderkultur?

Nym: Das ist mir zu verallgemeinernd; sicher gibt es in der Szene gegenkulturelle Unterströmungen, also einen Untergrund im Untergrund, aber die Szene in ihrer Gesamtheit ist ein Teil des popkulturellen Spektrums ohne verbindliche politische oder gesellschaftsreformatorische Agenda, ihre Organisationsstrukturen und Institutionen operieren weithin professionell und kommerziell; da ist seit den neunziger Jahren nicht mehr viel Gegenkulturelles zu bemerken. Im Gegenteil, die Szene assimiliert alles, von Metal, Country, Folklore und Techno bis zu Mittelalterrock, klassischer und Alter Musik, und öffnet sich durch diesen Eklektizismus dem gesamten musikgeschichtlichen Spektrum quer durch alle Epochen und geographischen Bereiche. Sie ist ein kultureller Container, der sich sämtlicher Stile bedienen kann und dank ihrer Flexibilität imstande ist, sich alles einzuverleiben. Sie ist ein offener Text; ein popkultureller Blob.

Dann haben jene recht, die klagen, in Wirklichkeit sei Wave-Gotik nur schwarz gewandeter Hedonismus, die Szene eine auf düster geschminkte Spaßgesellschaft?

Nym: Das trifft auf eine große Zahl von Modegruftis sicher zu. Party und Hedonismus – das war die Szene schon immer, aber eben gepaart mit der Bereitschaft, sich existentielle Gedanken zu machen und die unangenehmen, düsteren Seiten des Lebens nicht auszuschließen. Von dieser Auseinandersetzung nimmt man sicher etwas ins Erwachsenenleben mit, selbst wenn man nicht mehr in Schwarz rumläuft. Diejenigen, die das nach zwanzig, dreißig Jahren immer noch tun, haben sich für einen bestimmten Lebensstil entschieden, und das hat dazu geführt, daß es sich bei der Szene heute weder um eine Jugend(sub)kultur noch um eine Gegenkultur handelt, sondern um einen ästhetizistisch überformten Modus postmoderner Lebensgestaltung.

US-Filmemacher Michael Moore spricht mit Blick auf die Wave-Gotik-Kultur von „Deutschland als dem Mutterland der dunklen Musik“. Ist Wave-Gotik eine nationale Subkultur des heutigen Deutschland?

Nym: Moore sollte besser beim Filmemachen bleiben; diese Aussage ist aus der Perspektive des Außenstehenden nachvollziehbar, in der Sache aber falsch. Die musikalischen Wurzeln der Szene liegen in den anglophonen Ländern, in Punk, Post-Punk und Industrial, welche einige der damals gängigen Einflüsse aus kontinentalem Krautrock, Dada, Bruitismus und elektronischer Musik aufgriffen. Daß die dunkle Kultur in Deutschland am nachhaltigsten Fuß fassen konnte, dürfte vor allem daran liegen, daß wir hierzulande dank des Erfolgs von Rock, Blues, Jazz und anderen Formen populärer Musik in den fünfziger und sechziger Jahren und des damit verbundenen Antiautoritarismus eine insgesamt größere Offenheit für experimentelle Musik- und Kleidungsstile entwickeln konnten, als dies in restriktiveren Ländern der Fall ist. Natürlich ist auch im Fall der JUNGEN FREIHEIT das Medium die Botschaft, aber im Bezug auf die Schwarze Szene von einer „nationalen“ Kultur zu sprechen, ist grotesk. Die Szene lebt vom internationalen Austausch; Gruftis gibt es heute überall, und das WGT ist ein Zusammentreffen von Menschen aus aller Welt, die national geprägte Identitätsvorstellungen zugunsten selbstgewählter ästhetischer und kultureller Präferenzen hinter sich gelassen haben. Nationale Kultur ist ein ebenso irreführendes Konstrukt wie die Vorstellung einer homogenen Schwarzen Szene, und beide können nicht ohne transnationale gegenseitige Einflüsse gedacht werden.

All das gilt heute ebenso für Wagner oder das Oktoberfest und dennoch würde wohl jedermann – gerade im Ausland – die Aussage unterschreiben, beide seien sehr deutsch.Warum findet denn das größte Wave-Gotik-Treffen der Welt ausgerechnet im deutschen Leipzig statt?

Nym: Das ist vor allem, aber nicht nur der Wiedervereinigung zu verdanken. In Westdeutschland war die New-Wave-Gothic-Szene schon fast erledigt, während ihr in Ostdeutschland von allen Seiten subversive und aufregende Qualitäten zugeschrieben wurden. Nach dem Mauerfall waren die begehrten Tonträger endlich frei zugänglich, man konnte nun ungehindert Konzerte veranstalten, man holte sich Anregungen aus dem Westen, und dies führte auch dort zu einem bis heute anhaltenden Revival, das in England zum Beispiel unvorstellbar ist, wo man in musikkultureller Hinsicht viel stärker auf Trends und Moden fokussiert ist. Gerade in Leipzig konnte sich die damalige Szene aufgrund der zahlreichen Gebäudeleerstände fest etablieren und hat in diesen Freiräumen nach dem Ende der DDR den Marsch durch die Institutionen begonnen. Und das sehr erfolgreich, wie man an der Institutionalisierung des WGT unschwer erkennen kann.

 

Alexander Nym, der Medien- und Kulturwissenschaftler beschäftigt sich seit zwanzig Jahren mit der Schwarzen Szene, publizierte mehrere Bücher und ist gefragter Interviewgast zum Thema, etwa in der Süddeutschen Zeitung oder dem Mitteldeutschen Rundfunk. 2010 publizierte er mit „Schillerndes Dunkel. Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene“ ein vielfach gelobtes Standardwerk. 2011 war er Mitherausgeber des WGT-Jubiläumsbandes „Black Celebration. Zwanzig Jahre Wave-Gotik-Treffen“. Nym, Autor, Dozent, Veranstalter und Performancekünstler, wurde 1974 in Nürnberg geboren und entstammt selbst dem soziokulturellen Gothik-Milieu. Er war Instrumentalist des Industrialprojekts „Gerechtigkeits Liga“ und ist heute Texter und Vokalist der Elektropop-Band „Orgonautic“.

www.wave-gotik-treffen.de 

www.orgonautic.net

Foto: Wave-Gotik-Szene: „Es handelt sich weder um eine Jugendsubkultur noch um eine Gegenkultur, sondern um einen ästhetizistisch überformten Modus postmoderner Lebensgestaltung“

 

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