© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

Noch ist der Maidan nicht gestorben
Besuch in Kiew: Die andauernde Besetzung des Hauptplatzes stößt auf wenig Gegenliebe
Billy Six

Ungewöhnliche Töne. Am Rande des Kiewer Maidan spielt ein Trompeter die Internationale. Als Plädoyer für den Sozialismus sei dies aber nicht zu verstehen, beruhigen die Demonstranten vor dem ukrainischen Ministerium für Energie und Kohle.

Jeden Tag kommen einige Dutzend von ihnen, um Vizeminister Kiruschin und Chefberater Didenko lautstark zum Rücktritt aufzufordern. Der Grund: Korruptionsverdacht. Auch nachdem die Ukrainer mit Mühe und Not die Nachfolge des verjagten Ex-Staatschefs Viktor Janukowitsch organisiert haben, geht das revolutionäre Treiben im Herzen der 2,9-Millionen-Metropole weiter. Auf der Prachtallee Chreschtschatyk stehen noch immer gute 50 Zelte unterschiedlicher Größe – die Heringe fest in den Asphalt geschlagen.

Passanten bemängeln Alkoholismus und Gewalt

„Wir sind doch erst am Anfang“, meint „Papa Igor“ mürrisch, und mahnt Recht und Ordnung an, darunter auch die Aburteilung des alten Regimes. Der 54jährige geschiedene Bau-Vorarbeiter steht für acht Zelte mit „einer Hundertschaft“, genannt „Szotnija“, in der Verantwortung. Nach wie vor flanieren zahlreiche Bürger durch die improvisierte Siedlung. Doch die Betten sind nur noch zur Hälfte belegt. Wenn überhaupt. „Jeder ist willkommen“, sagt Igor, „wenn er sich diszipliniert verhält.“

Genau daran zweifeln mittlerweile einige Einwohner der ukrainischen Hauptstadt. Die 23jährige Wirtschaftsprüferin Olga bemängelt Alkoholismus, Schlägereien und mangelnde Sauberkeit. Vor allem die Barrikaden aus Autoreifen, Sandsäcken und Pflastersteinen störten. „Ich weiß nicht, was die Leute jetzt noch hier wollen“, meint sie. „Dann geht doch in den Osten zum Kämpfen.“

In den Monaten nach den Regierungsstürzen in Ägypten und Libyen 2011 war die Moral auf dem Kairoer Tahrir-Platz oder der Corniche von Bengasi ebenfalls spürbar zurückgegangen. Dennoch überrascht in Kiew neben vereinzelten Kulturprogrammen die gute Sicherheitslage – an einem Ort, der für die Polizei tabu ist. Innerhalb der von Aktivisten besetzten Gebäude der Umgebung sieht es sogar ordentlich und gepflegt aus – und damit ganz anders als im Oblast-Haus von Donezk, wo unter der Ägide von Separatisten-Anhängern wilde Verhältnisse herrschen.

Vitali Klitschko, mit fast 57 Prozent der Stimmen frisch zum Bürgermeister gewählt, will die Normalität zurück: „Es ist wichtig, daß Bürogebäude und die Fahrbahn in der Innenstadt wieder voll arbeitsfähig sind“, sagt er in einer überraschend anberaumten Rede auf der Maidan-Bühne. Igor ist damit nicht einverstanden: „Eher geht Klitschko als der Maidan.“

In einem vom „Maidan-Presse-Zentrum“ organisierten Runden Tisch der zahlreichen Protestvertreter wurden konstruktive Vorschläge als Ziel ausgegeben – herausgekommen ist ein öffentlicher Forderungskatalog. Hier werden die Reinigung der Verwaltung von Janukowitsch-Freunden, die Festschreibung von Zivilgesellschaft in der Verfassung und die Etablierung des Maidan als selbstregiertes Dauer-Denkmal angemahnt. Die einstige Hauptforderung nach Entmachtung aller Oligarchen findet sich dagegen nicht mehr.

Die Realität war schneller: Der 54-Prozent-Sieg des Schokoladenfabrikanten und Multimilliardärs Petro Poroschenko bei der außerordentlichen Präsidentenwahl war vor allem durch die Stimmen aus der West-Ukraine getragen. Die Reichen des Landes beweisen sich derzeit in ihren neuen Gouverneursämtern als einzig sichtbarer Rettungsanker des Krisenlandes, so mit Igor Kolomoyski in Dnjepropetrowsk oder Sergej Taruta in Donezk.

„Vom Leibeigenen Rußlands zum Sklaven Europas“

„Immerhin sind es ukranische Oligarchen, keine russischen“, meint Zenyk Meduykh verschmitzt. Im Aufstand hat der Weißhaarige noch eine Maidan-Abteilung geführt. „Aber dann habe ich meine Einheit verlassen, als ich merkte, daß wir in einem Informationskrieg mit Rußland sind“, begründet er das neue Engagement im Medienzentrum.

Schon während seines Wirtschaftsstudiums in den USA sei er 1996 zu einer Ukraine-Zukunftskonferenz nach New York geladen worden, berichtet er. Die damals festgestellten Perspektiven: Landwirtschaft und Einzelhandel. „Ich glaube der EU nützt es, Rapsfelder in der Ukraine anzulegen, um Autos mit Biosprit zu beliefern – aber wir wollen unsere Böden nicht mit Monokulturen zerstören.“ Englischlehrerin Alina, nationalfarbengemäß in blauem Kleid mit gelben Blüten gekleidet, bringt es auf den Punkt: „Dann werden wir jetzt vom Leibeigenen Rußlands zum Sklaven Europas – aber das ist es wert.“

Foto: Barrikaden aus Autoreifen kennzeichnen den Kiewer Zentralplatz: Selbst Neubürgermeister Vitali Klitschko ist hier nicht gern gesehen

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