© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

Pankraz,
J.-P. Sartre und der Autor auf dem Taksim

Taksim ist überall!“, jubelte ein Kritiker im Literaturteil seiner Zeitung. Er meinte damit den zentralen Platz in Istanbul und die großen Demonstrationen, die dort stattgefunden haben. Doch nicht die Demonstrationen an sich interessierten ihn, sondern daß „so viele Dichter und Schriftsteller“ diese Demonstrationen mit leidenschaftlichen Kommentaren begleiteten und daß das mittlerweile zu einer Wiederkehr der „engagierten Literatur“ geführt habe, in der Ukraine, in der Türkei, sogar in Berlin (siehe Oranienplatz).

„Engagierte Literatur = gute Literatur“, so das Credo jenes Literaturexperten. Denn alle diese Taksims und Maidans und Kreuzberger Oranienplätze hätten einer guten Sache, nämlich der Demokratie und der Freiheit, gedient, und eine Literatur, die sich mit ihnen verbünde, könne gar nicht anders als selber gut sein. Jedes politische Regime indessen, das ohne Demokratie und Freiheit bleibe, beschädige die Literatur zutiefst. Deshalb sei es auch falsch gewesen, daß 2012 der „unpolitische“ chinesische Dichter Mo Yan den Nobelpreis für Literatur bekommen habe; der Preis hätte dem politischen Aktivisten Ai Weiwei zugestanden.

Pankraz meldet hier intensive Zweifel an, so leid es ihm auch um manchen wackeren, mutigen Geistesarbeiter tut. Man muß der Wahrheit die Ehre geben. Mustert man die Geschichte durch, so könnte man auf den Gedanken kommen, daß nichts für eine gute Literatur günstiger sei als das Regiment gebildeter, genußsüchtiger und freigebiger Tyrannen oder Autokraten! Man denke nur an Peisistratos von Athen, an die ersten Römerkaiser, an die Medici, an Louis XIV., unter dessen Obhut Racine und Molière gediehen, an das französische Ancien régime im achtzehnten Jahrhundert!

Wichtig für literarische und überhaupt kulturelle Blüten ist nicht die Regierungsform, sondern der jeweilige „Geist“, der herrscht, der „Zeitgeist“. Ist dieser zelotisch gestimmt, wird er geprägt von religiösen oder weltanschaulichen Eiferern, seien sie nun revolutionär oder konterrevolutinonär, so kommen schlechte Zeiten für Literatur und Kunst. Es kann dann passieren (und passiert tatsächlich), daß mitten in der Demokratie der pure Geistesterror ausbricht, daß alle in eine einzige Richtung heulen müssen, ohne die geringste Chance der Dissidenz oder sonstiger stilistischer Abweichung.

Solche dunklen Zeitalter waren zum Beispiel das Wüten der radikalen Puritaner unter Cromwell in England, als sämtliche Theater verboten wurden, die diversen Bilderstürmereien im alten Byzanz, die ersten Jahre nach 1793 in Frankreich, die „Stanowtschina“ in der Sowjetunion in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Der Zeitgeist war in diesen Epochen derart destruktiv, die Zensur- und Überwachungsmethoden waren derart ausgedehnt und erbarmungslos, daß auch kein äsopisches Sprechen mehr half, daß für die Literatur nur noch Fallbeil oder rascheste Flucht übrigblieben.

Glücklicherweise sind solche Eruptionen des totalen Verbietens und Niedermachens, solche „Furien des Verschwindens“ (Hegel) meistens relativ kurz, werden in der Regel abgelöst von Fäulnisprozessen, wo die Zeloten ermatten, ohne eigentlich liberal zu werden, wo die Zensur unsicher taktiert und der Nachschub für die Henker ins Stocken gerät. Dann kommt die Stunde der literarischen Zyniker und schlauen Anpasser, die keineswegs unbegabt sein müssen, die manchmal sogar genial und epochemachend sind, breite Schneisen in die Geschichte der Kunst schlagend.

Halbe Freiheit ist für schöpferische Geister oft zuträglicher als die ganze. Sie müssen dann ihre sprachlichen Werkzeuge verfeinern, müssen durch die Blume sprechen, den unterschiedlichsten Standpunkten Gerechtigkeit widerfahren lassen, müssen Ironie, Delikatesse, selber Liberalität vorzeigen, um den (diktatorischen oder „demokratischen“) Aufpassern widerstehen zu können. Ihr Werk wird fürs Publikum zum interessanten Rebus, zum Palimpsest; auf jeder Seite steht außer dem, was offen dasteht, noch ein unsichtbarer Text, den der Autor „gemeint“ haben könnte.

Aus planen, meist etwas langweiligen Moralisten werden vielfältig schimmernde Humoristen, die gegebenenfalls mit dem Zensor Pingpong spielen. Moralität und Ästhetik decken sich nicht. Und am wenigsten stimmt, was Jean-Paul Sartre nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Lesern einreden wollte: nämlich daß jede „gute“ Literatur eine „littérature engagée“ sei, ein moralisierendes Korpus mit dem „Fortschritt der Freiheit“ als absolutem Qualitätshorizont.

Natürlich stimmt auch das Gegenteil nicht: daß „gute“ Literatur stets ästhetischer Gegenwurf gegen die Moralität sei und die „Blumen des Bösen“ evoziere, wie Baudelaire glaubte.

Die Kriterien guter Literatur liegen buchstäblich jenseits von gut und böse, ergeben sich aus der inneren Stimmigkeit, Originalität und Makellosigkeit des jeweiligen Sprachspiels. Diese Erkenntnis mag bitter sein für überzeugte literarische Streiter wider Diktatur und/oder totalitären Zeitgeist, sie ist jedoch nicht zu widerlegen. Bloßes moralisierendes Herumgepolter, empörte Aufschreie samt nachfolgendem Medienecho ändern daran nichts. „Die Geschichte“, sagt Hegel, „sucht sich ihre Akteure nicht unter moralischen Gesichtspunkten aus.“ Und so auch die Literaturgeschichte nicht.

Zur Ehrenrettung von Sartre und seiner „littérature engagée“ sei hinzugefügt, daß für ihn die Betonung immerhin noch auf der „littérature“ lag und nicht auf dem „engagée“, sehr im Gegensatz zu der Fülle der Literaten, die uns heute tagtäglich mit ihren Medienauftritten und hastigen Essays in Sachen Taksim e tutti quanti beglücken. Deren Engagement bezieht sich, wenn überhaupt, nur noch ganz am Rande auf Moralität. Für sie geht es einzig noch um ihren medialen Auftritt.

Wie hieß es einst bei McLuhan? „Das Medium ist die Botschaft.“ Daran glaubten faktisch alle Schriftsteller. Heute heißt es stattdessen: „Das Medium bin ich selbst, genauer: mein Algorithmus.“

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