© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

Umbau des Parteiensystems
Die Geduld hat ein Ende
Karlheinz Weißmann

Die AfD ist eine Partei. Was ist eine Partei? Eine Partei ist ein Verband von Menschen, die sich zum Zweck des Machtgewinns zusammengeschlossen haben. Sie bilden damit einen organisierten Teil eines größeren Ganzen – Partei von pars, lateinisch für „Teil“ – mit dem Ziel, auf dieses größere Ganze Einfluß zu nehmen. Ob dieses Ganze eine Familie, ein Clan, ein Stamm, ein Volk, eine Religionsgemeinschaft, ein Staat oder Reich ist, kann außer Betracht bleiben. Parteibildung erfolgt, sobald mehr als zwei im Spiel sind. Allerdings war die Parteibildung über den längsten Zeitraum der Geschichte informeller Natur. Selbst die Popularen und Optimaten der späten römischen Republik, die im Hinblick auf professionellen Wahlkampf und Propaganda schon weit gekommen waren, kannten keine feste Form, keine Vorstände, keine Mitgliedsabzeichen, -bücher und -beiträge. Dem wurde erst im 19. Jahrhundert abgeholfen, als sich die Opposition in den neuen Massenstaaten Europas gezwungen sah, den Zusammenschluß ihrer Anhänger voranzutreiben, um sich vor der Repression der Obrigkeit zu schützen und die eigene Schlagkraft zu erhöhen.

Was Sozialisten und Katholiken begonnen hatten, übernahmen nach einigem Zögern Liberale und Konservative. Allerdings haftete ihren Parteien immer etwas vom Charakter der Honoratiorenvereinigung an, der Etablierten, die untereinander Kandidatur und Amt ausmachten, den Wahlvorgang und das Wahlvolk als notwendiges Übel und das Procedere insgesamt als lästig betrachteten. Das erklärt ihre relative Erfolglosigkeit in der neuen Zeit. Nur wenn man sich dem Gegner anverwandelte, hatte man Aussicht, am Kampf um die Macht beteiligt zu bleiben.

Diese Anverwandlung war möglich, wenn der Schritt zur Volkspartei vollzogen wurde. Erste Beispiele dafür, jenseits von Rot und Schwarz, waren Demokraten und Republikaner in den USA, die zur National Party umgeformten Tories, die Christlich-Sozialen in der Habsburger Monarchie, die Unionsparteien in der Nachkriegszeit und der Gaullismus in Frankreich. Ob man die jetzt als „populistisch“ bezeichneten Parteien in diese Linie einordnen kann, steht noch nicht fest.

Die Neigung, alle diese Gruppierungen in einen Topf zu werfen, dient jedenfalls nicht der Klärung. Schon eine oberflächliche Prüfung zeigt, daß von Einheit keine Rede ist. Trotz der Übereinstimmungen – Kritik der europäischen Institutionen und des Verlusts der Souveränitätsrechte, Kritik der Einwanderung und der Verschwendung von öffentlichen Geldern – wird man die faktischen Differenzen nicht übersehen dürfen. Im Fall von Geert Wilders Freiheitspartei in den Niederlanden spricht das Wahlergebnis eher gegen die Annahme, daß sie die entscheidende Hürde genommen hat; offenbar erleidet die Gruppierung ein ähnliches Schicksal wie jene Ein-Punkt-Bewegungen, die seit den achtziger Jahren vor allem im skandinavischen Raum entstanden.

Sowohl Ukip- als auch AfD-Wähler beunruhigt die Bereitschaft der Politik, die nationalen Interessen zu verraten, beide Parteien repräsentieren vor allem die Mittelschicht, das heißt die Menge der hart arbeitenden, steuerzahlenden, Kinder großziehenden Leute.

Deutlich anders verhält es sich bei Front National und FPÖ, die auf eine stabile Basis zurückgreifen können und ein erprobtes Rezept anwenden, um ihre Anhängerschaft weiter auszubauen: Aufbietung des „gemeinen Mannes“ über einen offensiv vorgetragenen Patriotismus, der ausdrücklich auch im Sinn einer sozialen Schutzpflicht verstanden wird, und scharfe Wendung gegen eine als korrupt betrachtete Ordnung, ohne die Verfassung prinzipiell in Frage zu stellen.

So eindrucksvoll die Wahlerfolge von Front National und FPÖ auch waren, ist doch festzuhalten, daß die Ukip wegen ihres Erdrutschsieges einer eigenen Betrachtung bedarf. Sicher erklärt viel von ihrem Erfolg der politische Sonderweg, den Großbritannien immer wieder beschreitet, aber interessanter ist doch, daß es sich bei der Anhängerschaft der United Kingdom Independence Party um verprellte Konservative handelt, das heißt um Männer und Frauen, die von Natur aus „blau“ wählen, es aber nicht mehr tun, weil die Führungspersönlichkeiten „ihrer“ Partei schwach, das Programm unglaubwürdig und die Praxis opportunistisch geworden ist.

Will man die AfD einer der hier skizzierten Gruppierungen – der „Protestler“, der „Nationalen“ und der „Unbeugsamen“ – zuordnen, käme im Grunde nur die letzte Kategorie in Frage. Das gilt trotz der Distanzierung Luckes von der Ukip. Denn der programmatische Abstand zwischen Eu­ropa-Vorbehalt und Europa-Feindschaft ist das eine, die strukturelle Ähnlichkeit von AfD und Ukip etwas anderes. In einem Kommentar für das Handelsblatt erklärte Wolfram Weimer bündig: „Die Wählerschaft und die Funktionärsriege der AfD sind Fleisch vom Fleische des deutschen Bürgertums. Es tummeln sich dort langjährige CDU- und FDP-Wähler, die sich der neuen Formation zuwenden, weil ihnen die CDU unter Angela Merkel einfach zu weit nach links gerückt ist.“

In der Ukip wie der AfD stammt ein großer Teil des Personals und der Anhängerschaft aus den Reihen der eigentlich dominierenden bürgerlichen Parteien, in beiden Fällen spielt die Seriosität der Führungsriege eine entscheidende Rolle und ist es gleichzeitig gelungen, auch diejenigen zu erreichen, die bisher nirgends oder nur bei chancenlosen Außenseitern eine politische Heimat fanden. In beiden Fällen beunruhigt die Bereitschaft der Politischen Klasse, die nationalen Interessen zu verraten, um sich einer gesichtslosen Bürokratie oder dem global operierenden Kapital oder der vaterlandslosen Intelligenz anzudienen, in beiden Fällen repräsentiert man vor allem die Mittelschicht, das heißt die Menge der hart arbeitenden, steuerzahlenden, Familien gründenden, Kinder großziehenden Leute.

Daß es in Deutschland so lange gedauert hat, bis eine Formation wie die AfD entstand, ist einerseits auf schafsmäßige Geduld zurückzuführen, andererseits auf die Schreckvokabel „rechts“. Wenn die trotz aller Angriffe und Pöbeleien, trotz des großen und stimmgewaltigen Chors der antifaschistischen Warner und Mahner ihre Wirkung verfehlte, hängt das nicht nur mit der klugen Taktik der AfD-Spitze zusammen, die möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten trachtete und immer die „Normalität“ der Partei betonte, sondern auch mit einer Veränderung des gesellschaftlichen Klimas; selbst die taz sieht „keinen Grund zur Hysterie“ (Stefan Reinecke). Es war Zeit für eine Partei wie die AfD, und auch das erklärt ihren Erfolg bei der Wahl zum Europäischen Parlament.

Zu den wenigen, die das schon vor dem amtlichen Endergebnis zugaben, gehörte ausgerechnet der Chefredakteur der Zeit, Giovanni di Lorenzo. In der Ausgabe vom 22. Mai schrieb er, daß Versuche, die AfD kleinzureden, ohne Aussicht auf Erfolg blieben. Hier sei eine Gruppierung entstanden, die den konservativen Teil der politischen Mitte repräsentiere, der sich sonst nirgends mehr vertreten sehe. Natürlich ist ein gewisses Mißtrauen geboten, wenn von dieser Seite wohlwollend über die AfD gesprochen wird. Denn dahinter steht auch das Kalkül eines Linken, der auf die Schwächung des bürgerlichen Lagers durch Spaltung hofft und darauf, daß eine ähnliche Situation wie für die Grün-Rot-Tiefroten auf der Gegenseite entstehen könnte.

Die AfD ist noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen, und wenn sie zur Sammlung all derjenigen wird, die die Tassen im Schrank behalten, ergeben sich ganz neue Perspektiven. Dann geht es nicht mehr um Junior­partnerschaften.

Diese Gefahr droht allerdings nur, wenn die bisher gültigen Gesetze politischer Arithmetik weitergelten. Die AfD ist aber noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen, und wenn sie zur Sammlung all derjenigen wird, die die Tassen im Schrank behalten, ergeben sich ganz neue Perspektiven. Dann geht es nicht mehr um Juniorpartnerschaften, dann geht es tatsächlich um eine Neugestaltung des deutschen Parteiensystems.

Ob es so weit kommt, hängt allerdings von Faktoren ab, die nur schwer kalkulierbar sind: der Anziehungskraft, die die Alternative auf diejenigen gewinnt, die bisher abgewartet haben, jüngere Leute vor allem, die noch etwas vorhaben in ihrem Leben, gut ausgebildet und ehrgeizig, die nach Chancen und Möglichkeiten suchen, sich aber nie aus reinem Idealismus einer Sache verschreiben würden, dann um die Menge der fähigen Opportunisten und derjenigen, die eine feine Witterung dafür haben, ob sich ein Trend durchsetzt oder nicht. Was auf diesem Feld gelingt, hängt vom Geschick der AfD ab, aber auch von der Entwicklung der Lage, auf die sie keinen Einfluß hat: ob es das Personal der Altparteien weiter schafft, die Krisensymptome zu kaschieren, oder ob der Prozeß eskaliert und die Einschätzung Luckes zutrifft, daß die Probleme viel größer und viel schwerwiegender sind, als bisher zugegeben.

Parteien entstehen nicht grundlos. Sie entstehen, weil es ein entsprechendes Bedürfnis gibt und dieses Bedürfnis eine gewisse Stärke erreicht. Sie entstehen schließlich, wenn die Mächtigen allzu selbstgewiß werden und deren Ablenkungs- und Dämonisierungsstrategien versagen, und wenn eine hinreichend große Zahl von Männern und Frauen den Entschluß faßt, etwas Neues zu versuchen. Das ist im Grunde ganz prosaisch. Aber Prosa ist nicht alles, jedenfalls nicht für eine junge Partei, oder um es mit den Worten des zeitgenössischen Songwriters Andreas Bourani zu sagen, dessen Hit „Auf uns“ derzeit rauf und runter gespielt wird:

„Denkt an die Tage, die hinter uns liegen, / Wie lang wir Freude und Tränen schon teilen. / Hier geht jeder für jeden durchs Feuer, / Im Regen stehen wir niemals allein. / Und solange unsere Herzen uns steuern, / Wird das auch immer so sein. / Ein Hoch auf das, was vor uns liegt, / Daß es das Beste für uns gibt. / Ein Hoch auf das, was uns vereint /

Auf diese Zeit!“

 

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Gymnasiallehrer, Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Selbstbehauptung der ukrainischen Nation („Mutig und freiheitsliebend“, JF 18/14).

Foto: Wolfgang Mattheuer, „Osterspaziergang II“ (1971/72): Wollte man die AfD einer der skizzierten Gruppierungen – der „Protestler“, der „Nationalen“ und der „Unbeugsamen“ – zuordnen, käme nur die letzte Kategorie in Frage

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