© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/14 / 06. Juni 2014

Die Angst in der DDR vor der „chinesischen Lösung“
Das Massaker der Kommunisten an Oppositionellen auf dem Tian’anmen-Platz in Peking diente Honecker als Drohkulisse
Thorsten Hinz

Im Jahr 1989 waren die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen China und der DDR besser als je zuvor. Beide Führungen einte das Mißtrauen gegenüber „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umbau), die der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow eingeleitet hatte. In puncto Wirtschaftsreformen war China dem nördlichen Nachbarn zwar um Längen voraus, doch am Machtmonopol der Partei ließ es nicht rütteln. Die DDR suchte die ökonomische Kooperation mit der Bundesrepublik – an deren „goldenem Angelhaken“ sie längst hing –, sträubte sich aber gleichfalls gegen eine politische Öffnung. Parteichef Honecker hatte im Januar verkündet, daß die Mauer im Bedarfsfall noch 50 oder 100 Jahre stehen bleiben würde. Allerdings sah die SED-Führung sich in ein zunehmend feindliches Umfeld gestellt. Das Regime in Polen war gezwungen, die Opposition an der Macht zu beteiligen. Ungarn kündigte an, seine Grenze zum Westen zu öffnen. In dieser Situation war China der letzte verläßliche Verbündete.

Die DDR-Bevölkerung betrachtete den neuen Freundschaftsbund mit Skepsis. Seit Ende der 1950er Jahre hatte Eiszeit zwischen beiden Ländern geherrscht. Während der chinesischen Kulturrevolution war es zu Übergriffen gegen Angehörige der DDR-Botschaft gekommen. Die DDR-Führung rächte sich, indem sie kurzerhand die mit Mao-Bildern bestückten Schaukästen an der chinesischen Botschaft in Ost-Berlin herunterreißen ließ. Die feindliche Stimmung erreichte den Höhepunkt, als Peking im Februar 1979 eine militärische Strafaktion gegen Vietnam begann. Erst Gorbatschows Reformpolitik löste eine Wiederannäherung aus. Diese vollzog sich in einem atemberaubenden Tempo. 1987 bereits stattete Parteichef Zhao Ziyang der DDR einen Staatsbesuch ab.

Die vielen DDR-Bürger, die große Hoffnungen mit Gorbatschow verknüpften, verfolgten die Proteste auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens im Mai 1989 mit großer Aufmerksamkeit. Falls jetzt noch China von einer politischen Reformwelle erfaßt würde, bräche der SED-Führung eine weitere politische Stütze weg und sie wäre zu einer Kursänderung gezwungen. Honecker sah das genauso, doch seine Bewertung war ganz anders. Am 4. Juni 1989 wurde in der DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ verkündet: „Einheiten der chinesischen Volksbefreiungsarmee haben in der vergangenen Nacht den Tian’anmen-Platz in Peking geräumt (...), weil Konterrevolutionäre den Sturz der sozialistischen Ordnung beabsichtigt haben.“ Während ein internationaler Proteststurm losbrach, solidarisierten sich die Abgeordneten der Volkskammer am 8. Juni mit der chinesischen Führung und stellten einmütig fest, „daß in der gegenwärtigen Lage die von der Partei- und Staatsführung der Volksrepublik China beharrlich angestrebte politische Lösung innerer Probleme infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente verhindert worden ist. Infolgedessen sah sich die Volksmacht gezwungen, Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wiederherzustellen. Dabei sind bedauerlicherweise zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen.“

Auch in der DDR nahmen die politischen Spannungen dramatisch zu. Bei der Stimmabgabe für die Kommunalwahlen im Mai hatte sich zum ersten Mal breiter Widerstand geregt. Als das Regime die zahlreichen Nein-Stimmen ignorierte und die üblichen 99,8-Prozent-Ergebnisse verkündete, kam es zu öffentlichen Protesten. Als die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, auf dem IX. Pädagogischen Kongreß im Juni von „feindlichen Kräften“ sprach und hinzufügte: „Unsere Zeit ist eine kämpferische Zeit, sie braucht eine Jugend, die kämpfen kann, (...) wenn nötig, mit der Waffe in der Hand“, wurden ihre Sätze als Drohung verstanden. Das Wort von einer „chinesischen Lösung“ machte die Runde.

DDR-Führung übte Schulterschluß mit China

Am 6. Oktober druckte das SED-Bezirksorgan Leipziger Volkszeitung den bestellten Leserbrief eines Kampfgruppen-Kommandeurs ab, der Margot Honeckers Drohung fast wortgleich wiederholte: „Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!“

Ende September flog Egon Krenz, Honeckers potentieller Nachfolger, zu den Revolutionsfeierlichkeiten nach China. Krenz hatte den Panzereinsatz in Peking mit den Worten kommentiert, es sei „etwas getan worden, um die Ordnung wiederherzustellen“. Nun bekannte er sich zur „Klassensolidarität“ mit China, die „eine Sache der Klassenehre und Klassenpflicht“ sei. Man stehe „auf der Barrikade der sozialistischen Revolution“ dem gleichen Gegner gegenüber. Krenz galt jetzt endgültig als Verfechter einer „chinesischen Lösung“, die er in Wahrheit fürchtete und vermeiden wollte. Er gehörte mit dem Berliner SED-Bezirkschef Günter Schabowski zum Verschwörer-Zirkel innerhalb der SED-Führung, der Honeckers Absetzung betrieb. Als er drei Wochen später tatsächlich dessen Nachfolge antrat, eine „Wende“ verkündete und sich als Hoffnungsträger präsentierte, schlug ihm, dem angeblichen Wolf im Schafspelz, wütender Hohn entgegen. Erst nach dem Mauerfall nahm die erste frei gewählte Volkskammer im Juni 1990 die China-Erklärung von 1989 zurück und bat für sie um Entschuldigung.

Foto: Chinesische Armee vor der Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens, Peking am 30. Mai 1989: Egon Krenz lobte den Panzereinsatz als „Sache der Klassenehre und Klassenpflicht“

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