© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Unter Druck gesetzt
Ein Donald Rumsfeld in Filzpantoffeln: Der US-Historiker und Holocaust-Forscher Timothy Snyder warnt die Europäer davor, sich von der Vormundschaft der Vereinigten Staaten zu emanzipieren
Thorsten Hinz

Unter den in Europa engagierten Intellektuellen ist der amerikanische Historiker Timothy Snyder der zur Zeit umtriebigste. Kein Tag vergeht, an dem der Yale-Professor nicht als Handlungsreisender in Sachen Ukraine und Maidan unterwegs ist. Auch in den deutschen Zeitungen und Rundfunksendern wird er als Referenzgröße zitiert, als Osteuropa-Experte schlechthin. In ganzseitigen Zeitungsartikeln deutet er die aktuellen Konflikte, geißelt Putin als verkannte Bedrohung aus dem Osten, kritisiert die EU als passiv und naiv und fordert sie auf, Kiew eine Beitrittsperspektive zu eröffnen.

Mitte Mai organisierte Snyder in der ukrainischen Hauptstadt den Kongreß „Thinking Together“ mit rund fünfzig Multiplikatoren aus Ost und West: Historiker, Politik-, Sozial- und Kulturwissenschaftler, Schriftsteller, Künstler. Vorbild war der Kongreß für kulturelle Freiheit, der 1950 unter amerikanischer Schirmherrschaft in West-Berlin veranstaltet wurde. Die Veranstaltung verfehlte nicht ihre Wirkung. Sogar die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), die sonst das Understatement pflegt, schwärmte danach von der „Mystik und Rationalität des Maidan“ und rief Kiew zur „geistigen Kapitale“ Europas aus.

Snyders Renommee stützt sich auf sein Buch „Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin“, ein 500-Seiten-Werk, das 2010 in den USA erschien und in Windeseile in viele Sprachen – inzwischen sind es 28 – übersetzt wurde. Unter dem Begriff „Bloodlands“ faßt er das heutige Polen (ohne Pommern und Schlesien), Ostpreußen, das Baltikum, die Ukraine und Weißrußland zusammen, wo die totalitären Regime den Großteil ihrer Massenmorde verübten.

Scheils Rezension erweist sich als prophetisch

Snyder tritt eher als Geschichtenerzähler denn als Analytiker der Geschichte hervor. Stefan Scheil schrieb in der JUNGEN FREIHEIT, er sei „symptomatisch für eine Historikerszene, der häufig die Kenntnis politischer Zusammenhänge der damaligen Zeit fehlt, die aber dennoch Standards setzen will“. Und weiter: „Wissenschaftlich ist das Buch fast wertlos. Seine Wirkung wird im geschichtspolitischen Bereich liegen. Jemand hat bezahlt, daß ‘Bloodlands’ gleich in zwanzig Sprachen erscheint. So kann nun beispielsweise weltweit nachgelesen werden, daß der Autor dem heutigen Rußland abspricht, sich im Rahmen nationalen Gedenkens auf die hohen Opferzahlen des Zweiten Weltkriegs in den Bloodlands zu berufen“ („Wunderliche Gedankenwelten“, JF 51/11).

Scheil ist nicht der einzige, der den wissenschaftlichen Wert von „Blood-lands“ bezweifelt. Doch kann kein deutscher Historiker, der eine akademische Karriere verfolgt, es sich erlauben, frontal einen angelsächsischen Bestseller zu kritisieren, der von Hitler und dem Holocaust handelt. Sönke Neitzel schrieb in der Frankfurter Allgemeinen, Snyders Buch sei „exzellent geschrieben“, fügte aber hinzu, ihm sei „der ganz große Wurf nicht gelungen“. Fachleute würden kaum Neues erfahren, er vermische Judenmord und Partisanenbekämpfung, unterschätze die Logik des Militärischen und blende aus, daß es „jenseits von ideologischen Intentionen die situative Dynamik des militärischen Geschehens“ gab. Der Berliner Historiker Jörg Baberowski schrieb in der Zeit von einem „meisterlichen“ Buch, um dann ebenfalls zahlreiche Mängel zu konstatieren.

Scheils Rezension erweist sich heute als geradezu prophetisch. Die „Blood-lands“ sind ein ahistorisches Konstrukt, dem wissenschaftsfremde, nämlich geschichts- und geopolitische Absichten zugrunde liegen. Im Vorfeld der „Maidan“-Ereignisse erschienen, bildet es die scheinwissenschaftliche und moralische Plattform, von der Snyder politisch argumentiert und Forderungen an die Europäer stellt. „Zwischen 1933 und 1945 war die Ukraine der tödlichste Ort der Erde.“ Rußland habe dadurch jedes Recht verwirkt, die Ukraine zu ihrer geopolitischen Einflußzone zu zählen, und die Deutschen als zweite Mitverursacher der Greuel seien verpflichtet, die amerikanische Politik zu unterstützen, die auf die Herauslösung Kiews aus der Machtsphäre Moskaus abzielt.

Es gehe um die Abwehr des „Projekts“ von Wladimir Putin, das laut Snyder darin besteht, eine postsowjetische Freihandelszone zu errichten und parallel dazu mit Unterstützung der extremen Rechten in Europa die EU zu zerstören. Putins Ziel sei ein Eurasien, „das von Lissabon bis Wladiwostok reicht“. Kurz vor den Europawahlen behauptete Snyder, „eine Stimme für Strache oder Le Pen“ sei eine Stimme für den russischen Präsidenten und sein Eurasien. (FAZ vom 14. April 2014)

Tatsächlich wäre es ein Fehler, wenn Europa sich in Abhängigkeit von Moskau begeben und von ihm sein Gesetz empfangen würde. Doch das ist völlig unwahrscheinlich, denn anders als vor hundert Jahren sendet der Osten kein verführerisches Licht mehr gen Westen und ist Rußland zu schwach, um eine Hegemonie über Europa zu errichten. Snyder geht es um etwas anderes. Er fürchtet, daß die EU sich im Innern neu sortiert, in Rußland einen taktischen Partner entdeckt und mit Hilfe dieses Zweckbündnisses sich von der Vormundschaft der USA emanzipiert.

Aufdringliches Lob für die gegenwärtige EU

Snyders aufdringliches Lob für die gegenwärtige EU ist kein Zufall. Es gilt einer autoritären Bürokratie und überdehnten Transferunion, die die europäischen Völker paralysieren und gleichzeitig mit ihren selbstgeschaffenen internen Konflikten so sehr beschäftigt sind, daß sie außenpolitisch nur für Handlangerdienste taugen. Snyder möchte, daß es dabei bleibt und die EU die antirussische Globalstrategie der USA politisch und finanziell flankiert.

In dem Kontext erfüllt das „Bloodlands“-Konstrukt eine wichtige politische Aufgabe. Es vereint mehrere Länder des US-affinen „Neuen Europa“, das der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Vorfeld des Irak-Krieges gegen das überwiegend kriegsunwillige Westeuropa in Stellung brachte, mit den osteuropäischen Gebieten, die Washington aus Moskaus Einflußsphäre in die eigene überführen will. Der Unterstützung der Osteuropäer können die USA sich dabei sicher sein. Die Erhebung der „Bloodlands“ zum geschichtlichen und gegenwärtigen politischen Epizentrum, das eine neue Erzählung von Europa inklusive klarer Freund-Feind-Kennung stiftet, stärkt sie politisch und moralisch. Die Westeuropäer, insbesondere die Deutschen, aber werden unter Druck gesetzt. Timothy Snyder ist ein Rumsfeld in Filzpantoffeln!

Gleichzeitig warnt er die Europäer vor russischen Geopolitikern, die „von Carl Schmitt, einem der führenden politischen Theoretiker der Nazis“, inspiriert seien. Man darf raten, ob die Charakterisierung Schmitts von demagogischer Absicht oder bloß von Unkenntnis zeugt. Snyder verschweigt wohlweislich, daß Schmitt seine Großraum-Theorie ausdrücklich als Antwort auf die amerikanische Monroe-Doktrin formuliert hat. Snyder möchte, daß das geopolitische Kalkül den Europäern verboten und den USA vorbehalten bleibt.

Die Akzeptanz, die Snyder in Deutschland gefunden hat, beruhte auch auf der Annahme, unter Berufung auf ihn Tabus und Blockaden in der eigenen Historiographie aufbrechen zu können. Jörg Baberowski wagte in seiner Rezension die Spekulation: „Stalins Schergen waren professionelle Killer, die ihr Mordhandwerk gelernt und erprobt hatten, bevor der Krieg ausbrach. (...) Lernten die Soldaten der Sicherungsdivisionen, der Polizeibataillone und der Waffen-SS von den stalinistischen Handwerkern des Todes?“

Das erinnert semantisch und syntaktisch an Ernst Noltes berühmte Fragen nach dem logischen Prius und der Ursprünglichkeit der totalitären Vernichtungspolitik. Snyder, von solchen Deutungen offenbar völlig überrascht, beeilte sich, ihnen eine Absage zu erteilen. Irritiert zeigt er sich auch vom Versuch russischer Politiker und Medien, sich die westliche Fixierung auf Hitler zunutze zu machen und den Faschismus-Vorwurf gegen die Maidan-Opponenten und ihre Unterstützer im Westen zu kehren.

Widersprüche scheint er nicht zu bemerken

Kurzerhand erklärte er den Holocaust zum „Meridian des Denkens“, seine Geschichte sei „unsere Agora, unser Maidan“. Im selben Atemzug warnte er vor der „Politisierung der Geschichte“, die zur „Trivialisierung des Gedächtnisses“ führe (NZZ vom 1. März 2014), und warf dem offiziellen Rußland vor, „zu seinem eigenen Nutzen sich auf den Holocaust“ zu beziehen – und damit einen „Holocaust-Populismus“, der „äußerst antisemitisch“ sei, zu befördern.

Spontan würde man hinter solchen Aussagen einen ironischen oder selbstironischen Hintersinn vermuten. Doch Snyder scheint seine Selbstwidersprüche und Trivialisierungen gar nicht zu bemerken. Die Wissenschaft ist nur das Alibi für seinen Einsatz als US-Imperialist, ideologischer Stichwortgeber und antieuropäischer Kalter Krieger.

Foto: Timothy Snyder am 7. März 2014 in Wien: US-Imperialist, ideologischer Stichwortgeber, antieuropäischer Kalter Krieger

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen