© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Wiedereinführung der Wehrpflicht
Strategisch einplanen
Michael Vollstedt

Die Ausrichtung der Bundeswehr auf internationale Krisenbewältigung ist längst nicht abgeschlossen. Ein Kraftakt, bei dem die Kehrtwende zur Wehrpflichtarmee desaströse Folgen hätte und in unserer strategischen Lage nicht zu rechtfertigen wäre. Dennoch bleibt strittig, ob die Aussetzung der Wehrpflicht – genauer: von allgemeinem Grundwehrdienst und verpflichtender Musterung – richtig war. Denn Deutschland kann in der Krisenbewältigung zwar militärische Achtungserfolge vorweisen, findet aber nicht zu einer überzeugenden politischen Position. Das „Neue“ kompensiert nicht den Verlust des „Alten“. Da der Aussetzung der Wehrpflicht keine schlüssige sicherheitspolitische Debatte vorausging, sollte weiteres Nachdenken nicht tabu sein.

Die heutige Bundeswehrkonzeption sieht ein weites Aufgabenspektrum bei begrenzten Ressourcen vor, so daß es in der Streitkräftestruktur von vielem etwas gibt, aber jeweils nur wenig. Für die strategische Risikovorsorge braucht es aber eine personelle und materielle Basis, auf der zuvor reduzierte Strukturelemente erneuert werden können.

Diese Fähigkeit zur Rekonstitution soll das militärische Reaktionsvermögen für den Fall sichern, daß sich die strategische Lage verschärft. Sie ist nur bruchstückhaft vorhanden und muß gestärkt werden. In einer kurzfristigen Lösung wäre das aus früheren Jahren verbliebene, für die aktive Truppe nicht benötigte Material in Reserve zu halten, soweit es „zukunftsfähig“ ist – beispielsweise für die Luftverteidigung, die in der Bundeswehr zur Restgröße schrumpft.

In längerfristiger Perspektive sollte das Verteidigungsministerium klären, welche konzeptionellen Vorstellungen, Strukturelemente und Verfahrensregelungen beizubehalten oder wieder zu entwickeln sind, um nötigenfalls eine Reaktivierung der allgemeinen Wehrpflicht zu ermöglichen. Und wie man die dann erforderliche Ausrüstung verfügbar machen kann. Entscheidungs-, Entwicklungs- und Beschaffungsgänge von zwanzig Jahren, gefolgt von einer 30jährigen Nutzung, sind bei Hauptwaffensystemen normal. Auf Ad-hoc-Lösungen zu setzen, wenn sich strategische Krisen abzeichnen, wäre unverantwortlich.

Eine Reaktivierung der Wehrpflicht macht nur im Gleichschritt mit entsprechender Ausrüstung Sinn, die wegen des nötigen Beschaffungsvorlaufs sogar zeitlichen Vorrang haben müßte.

Bei der Rekonstitution – nicht zu verwechseln mit kurzfristiger Mobilmachung – geht es um den mehrjährigen Wiederaufbau von Streitkräften, dessen Notwendigkeit in der Zukunft noch nicht konkret absehbar ist, der aber ohne personellen und materiellen Vorhalt nicht zu bewältigen wäre.

Die dazu erforderliche Konzeption setzt politisch ein breites Einvernehmen sowie Legislaturperioden übergreifendes Stehvermögen voraus. Sie muß in der Bundeswehrplanung verankert werden und die erforderlichen zivilen Ressourcen berücksichtigen.

Und sie muß die Einrichtungen vorsehen, die gebraucht werden, um zügig zusätzliches Personal auszubilden und so den für eine Krise benötigten Streitkräfteumfang zu sichern. Daß dies in „Rekonstitutionsübungen“, zivil und militärisch, mit aktiver Truppe und Reservisten zu erproben ist, versteht sich von selbst.

Die Wehrpflicht existiert, und sie hat weiterhin praktische Bedeutung. Die schrittweise oder volle Aktivierung der ausgesetzten Anteile muß als systematischer Katalog von Optionen in der strategischen Risikovorsorge unseres Landes verankert sein.

Auch wenn die Rückkehr zur Wehrpflicht alter Prägung mit der heutigen strategischen Lage nicht zu begründen wäre, gehört das Thema in die sicherheitspolitische Debatte: Die Wehrpflicht existiert und hat, beispielsweise für das Reservistenpotential, weiterhin praktische Bedeutung.

Die schrittweise oder volle Aktivierung der ausgesetzten Anteile muß als systematischer Katalog von Optionen in der strategischen Risikovorsorge unseres Landes verankert sein. Dazu muß die personelle Rekonstitution der Streitkräfte durchgängig in Struktur und Fähigkeitsspektrum der Bundeswehr eingebaut werden. Schließlich müssen die zivil-militärische Fähigkeit und der politische Wille zur Rekonstitution – nötigenfalls mit allgemeiner Wehrpflicht – erkennbar sein. Und zwar innenpolitisch wie im Verhältnis zu anderen Staaten, verbündeten und nichtverbündeten.

 

Michael Vollstedt, Jahrgang 1942, ist Generalmajor a. D. Er war Kommandeur der 2. Luftwaffendivision und Referats- beziehungsweise Abteilungsleiter im Bundesverteidigungsministerium und im Nato-Hauptquartier in Brüssel. In seiner letzten Verwendung sicherte er den deutschen Luftraum.

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