© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Doch kein Schlechter
Werner Hecht korrigiert das negative Bild Bertolt Brechts, das nach dem 17. Juni 1953 von dem Dramatiker herrschte
Jörg Bernhard Bilke

Das aktuelle Buch Werner Hechts über die acht OstBerliner Jahre 1948 bis 1956 des „Stückeschreibers“ Bertolt Brecht (1898–1956) war längst fällig, konnte aber erst nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 geschrieben werden, als Archive, Akten der DDR-Staatssicherheit und Nachlässe zugänglich wurden. Der Literaturwissenschaftler Hecht wurde 1926 in Leipzig geboren und hat bei Hans Mayer studiert. 1959 ist er von der Brecht-Witwe Helene Weigel ans Berliner Ensemble verpflichtet worden. Er war Mitherausgeber der 32bändigen Werkausgabe bei Suhrkamp und ist Autor der „Brecht-Chronik“ (1997) und des Buchs „Leben Brechts in schwierigen Zeiten“ (2007).

Das neunte Kapitel dieses spannenden Buches mit dem Titel „Keine Lösung. Der 17. Juni 1953“ ist das aufschlußreichste, was das Verhältnis des bis zu seinem Tode 1956 parteilosen Kommunisten Bertolt Brecht zum SED-Chef Walter Ulbricht angeht. Dieses Verhältnis war zwiespältig und voller Widersprüche, zumal der im Oktober 1948 aus Zürich eingereiste Dramatiker nie DDR-Bürger war, sondern 1950 die österreichische Staatsbürgerschaft annahm, seine Werke beim Suhrkamp-Verlag in Frankfurt am Main erschienen und seine Tantiemen aus dem Westen auf Schweizer Banken überweisen ließ. Selbst die ein Jahr vor seinem Tod erschienene „Kriegsfibel“ war strenger Zensur unterworfen: Sie wurde als Ausdruck des „reinsten Pazifismus“ verunglimpft und durfte nur in gereinigter Fassung und minimaler Auflage erscheinen. Die vollständige Ausgabe erschien 1994.

Das „Neue Deutschland“ verkürzte die Wortmeldung

Am Spätnachmittag des 16. Juni 1953 erfuhr Brecht in Berlin-Weißensee vom Bauarbeiterstreik in Berlin-Friedrichshain. Am selben Abend erklärte der verängstigte SED-Vorsitzende Walter Ulbricht im Berliner Friedrichstadt-Palast: „Die Partei hat die Verbindung zu den Massen verloren!“ Daraufhin nannte Brecht den Streik eine „selbstverschuldete Notwendigkeit“ und forderte im Gespräch mit seinem Mitarbeiter Manfred Wekwerth als Lösung des Konflikts: „Die Streikenden bewaffnen!“

Seine Mitarbeiterin Käthe Rülicke schrieb mehr als fünf Jahre später, am 13. Dezember 1958, ihre Erinnerungen an den Tagesablauf Bertolt Brechts am 16./17. Juni 1953 nieder und übergab das Manuskript Hans Bunge, dem Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs. Dieser vertrauliche Bericht aber wurde von Helene Weigel weggeschlossen und war niemandem zugänglich. Der Niederschrift Käthe Rülickes zufolge gingen sie, Bertolt Brecht und sein Freund Jacob Walcher, ein 1951 aus der SED ausgeschlossener Kommunist, am frühen Morgen des 17. Juni durch Ost-Berlin. Der Generalstreik war ausgerufen, und Bertolt Brecht soll „tief bestürzt“ gewesen sein, daß Arbeiter gegen die Arbeiterregierung streikten!

Eine Stunde später schrieb er drei Briefe: an den Sowjetbotschafter Wladimir Semjonow, an Ministerpräsident Otto Grotewohl und an Walter Ulbricht. Von diesem dritten Brief ist am 21. Juni, als der Aufstand niedergeschlagen war, in der SED-Zeitung Neues Deutschland lediglich der letzte Satz veröffentlicht worden, der Bertolt Brechts Einschätzung des 17. Juni in ein völlig falsches Licht rückte: „Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken.“ Was der Absender aber im zweiten Satz seines Briefes kritisch angemerkt hatte, daß er jetzt eine „große Aussprache über das Tempo des sozialistischen Aufbaus“ erwarte, war unterschlagen worden. Das nämlich hätte zu einer „Fehlerdiskussion“ zwischen DDR-Bevölkerung und Staatspartei geführt, die unbedingt zu vermeiden war.

Um 13 Uhr am 17. Juni verhängte die sowjetische Besatzungsmacht den Ausnahmezustand. Die SED-Führung hatte längst beschlossen, daß der Arbeiteraufstand keiner war, sondern ein von West-Berlin aus gesteuerter „konterrevolutionärer Putschversuch“. Nicht die SED war schuld, sondern der „Klassenfeind“ jenseits der innerdeutschen Grenze.

Empört darüber, daß der Schlußsatz seines Briefes, der einen völlig falschen Eindruck vermittelte, von der Redaktion des Neuen Deutschland in die Reihe der Ergebenheitsbekundungen an SED-Führung und DDR-Regierung eingerückt worden war, veröffentlichte Bertolt Brecht einen zweiten Text in dem SED-Organ, worin er von „berechtigter Unzufriedenheit“ der Arbeiter sprach und noch einmal die „dringlich große Aussprache über die allseitig gemachten Fehler“ anmahnte. Ein Versuch, mit Walter Ulbricht über den Aufstand zu sprechen, mißlang.

In der Bundesrepublik löste die angebliche Unterwerfung des „Stückeschreibers“ unter die Deutungshoheit der Partei „große Verwirrung“ und einen „Sturm der Entrüstung“ aus. Jetzt galt Bertolt Brecht als Parteigänger Walter Ulbrichts, dessen Dramen von den Theaterspielplänen abgesetzt wurden. Im Brief an seinen westdeutschen Verleger Peter Suhrkamp vom 1. Juli 1953 schrieb er, die Arbeiter seien „zu Recht verbittert“ gewesen. Suhrkamp wagte aber nicht, den Brief zu veröffentlichen – entgegen dem dringlichen Wunsch seines Verfassers. Der Dichter zog sich im Juli 1953 in sein Sommerhaus in Buckow/Märkische Schweiz zurück und arbeitete an einer Gedichtsammlung, die er „Buckower Elegien“ nannte, die aber erst 1964 erscheinen konnte. Dort fand man das Gedicht „Die Lösung“, worin der Regierung angesichts ihrer Unfähigkeit vorgeschlagen wurde, „das Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen“. Ein Tagebucheintrag Bertolt Brechts vom 20. August 1953 begann mit dem Satz: „Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet.“

Werner Hecht: Die Mühen der Ebenen. Brecht und die DDR. Aufbau Verlag, Berlin 2014, gebunden, 362 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro

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