© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/14 / 13. Juni 2014

Moralisch Gutes hat Bestand
Wertediskussionen in der Analyse
Werner Olles

Die Auswirkungen der Dialektik der Aufklärung, von denen vor allem die neuzeitlichen europäischen Gesellschaften gezeichnet sind, haben nicht nur ein ästhetisches Trauma hervorgebracht, das seinesgleichen sucht, sondern sind immer auch Vorboten und Zeichen einer strukturellen Amoralität. Diese wiederum korrespondiert ganz ungeniert mit einer geradezu radikalen Verwerfung ethischer und kultureller Hemmungen, die heutzutage von allzu vielen unserer Mitbürger mit idiotischem Entzücken goutiert wird.

Dies bezeichnen Kritiker jener Entwicklung als massenhafte Abstumpfung historischer Irrläufer eines untergehenden Zeitalters, auch wenn durchaus gewisse Anzeichen und Ansätze einer Rückkehr zu tradierten Werten, zu Tabus und Dezenz auszumachen sind. Tatsächlich sind es nicht bloß die altersstarrsinnigen Überreste reaktionärer oder rechter „Dinosaurier“, die einem erneuerten Gefühl für „Werte“ huldigen.

Michael Rumpf beschreibt in seinem Essay, wie sich im Wert Daseinswürdigkeit und Zustimmung finden: Was moralisch gut sei, bleibe es, auch wenn sich niemand danach richte. Das ist so widersprüchlich wie es wahr ist, denn natürlich setzt die Vorstellung von Wahrheit und vom rechten Weg die von Irrwegen und Lüge voraus. Rumpf bezeichnet diese Dualitäten, die Spaltungen von Subjekt und Objekt, von Gut und Böse, von Körper und Geist als Überwindung und Aufhebung der „Urkluft von Sein und Sollen“.

In der modernen Warengesellschaft, die sich durch die Fähigkeit auszeichnet, ihr eigenes von Widersprüchen und Absurditäten geprägtes Universum als quasi natürliche Ordnung erscheinen zu lassen, treten solcherlei „Wertgänge“ vorerst nur in wenigen nonkonformistischen Randbemerkungen auf. Schon die national- und erst recht die real-sozialistischen Sprachregelungen haben die Grenze zwischen bezeichnendem Sprechen und offener Lüge erfolgreich verwischt. Verglichen mit dem allgegenwärtigen Zustand blieben sie dank ihrer Zentrierung auf die politische Sphäre leicht durchschaubar. Indes scheint die wuchernde Ausbreitung eines universellen Offenheitsgebotes und einer pseudosouveränen Unverklemmtheit als allgemeinem Lebensprinzip und Mittel der Erkenntnisvermeidung inzwischen fast unumkehrbar.

Michael Rumpf: Wertgänge. Essays. Basilisken-Presse, Marburg an der Lahn 2014, broschiert, 76 Seiten, 15 Euro

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