© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/14 / 20. Juni 2014

Es gibt kein Zurück
Kammerspiel im Kino: „No Turning Back“ beschäftigt auf unterhaltsame Art
Wolfgang Paul

Bauleiter Ivan Locke hätte gute Gründe, nach Hause zu fahren. Dort warten seine beiden Söhne zum gemeinsamen Fußballschauen vor dem Fernseher. Ehefrau Katrina hat Würstchen und einen Sechserpack deutsches Bier besorgt und zum ersten Male das Trikot der Mannschaft angezogen, die es zu unterstützen gilt. Zudem wartet am nächsten Morgen eine große berufliche Aufgabe auf ihn.

Doch Ivan Locke verläßt zu Schicht-ende die Großbaustelle in Birmingham und fährt mit seinem BMW nach London. Schon der Titel „No Turning Back“, den der deutsche Verleih dem Film mit dem nichtssagenden Originaltitel „Locke“ klugerweise gegeben hat, besagt, daß es für ihn kein Zurück gibt.

Der Grund für Lockes ungewöhnliches Verhalten heißt Bethan und liegt mit äußerst schmerzhaften Wehen in einem Londoner Krankenhaus. Das Kind ist das Ergebnis einer Liebesnacht mit dem schuldbewußten Locke.

Selbst die 218 Lastwagen, die am frühen Morgen dirigiert und kontrolliert werden müssen, wenn sie den Beton für das Fundament eines Hochhauses anliefern, halten ihn nicht von der Pflicht ab, der Frau seines Kindes bei der Geburt beizustehen. Darin sieht er seine vordringliche Verantwortung, zumal der verstorbene Locke senior sich nicht um ihn gekümmert hat. Alles andere ist zweitrangig für ihn und muß per automobiler Telefonanlage erledigt werden.

Sein Assistent erhält in der Nachtschicht die nötigen Anweisungen zur Vorbereitung der Betonlieferung. Sein Vorgesetzter, den er als „Bastard“ in der Telefonanlage gespeichert hat, muß informiert werden, daß Locke am nächsten Morgen nicht auf der Baustelle sein wird, aber trotzdem die Sache im Griff hat. Seiner Frau Katrina muß er den Seitensprung beichten, was er bisher nicht gewagt hat.

„No Turning Back“ wäre ein ganz gewöhnlicher Thriller geworden, wenn man Locke im Auto telefonieren sähe und – Bildschnitt – die jeweiligen Anrufer oder Angerufenen in ihrer Umgebung. Doch Regisseur Steven Knight, der bislang durch sein Drehbuch zu „Tödliche Versprechen“ von David Cronenberg aufgefallen ist, hat sich für ein Kammerspiel entschieden und damit der Vorstellungskraft seines Publikums breiten Raum gegeben. Er zeigt Ivan Locke im Auto, vorbeifahrende Autos, Autobahnen (M6 und M1) bei Nacht oder einfach nur Lichtreflexe von Scheinwerfern. Den Rest muß man sich dazudenken – und damit wird man auf eine sehr unterhaltsame Art beschäftigt.

Ob Ehekrise oder die Drohung der fristlosen Kündigung, ob Krankenhausprobleme einer ängstlichen werdenen Mutter, die es zu beruhigen gilt, oder der Alkoholpegel des Vorarbeiters auf der Baustelle, der so niedrig wie möglich gehalten werden muß. Man braucht gar nicht alles zu sehen, man spürt es förmlich.

Das funktioniert allerdings nur mit einem hervorragenden Schauspieler in der Hauptrolle. Tom Hardy als Locke agiert mit der erforderlichen Mischung aus beruhigend wirkender Gelassenheit, nötiger Autorität und innerer Anspannung, die seiner stressigen Lage angemessen ist. Zudem gelingt es Kameramann Haris Zamberloukos, eindringliche Bilder einzufangen, und Cutterin Justine Wright, sie mit dem richtigen Sinn für Rhythmus zusammenzufügen.

So entsteht ein Sog, dem man sich auch dann nicht entziehen kann, wenn manches Konstruktionsteil des Films anzweifelbar erscheint. So ist es fragwürdig, daß dieser bedeutende Moment einer Hochhaus-Gründung von einer einzelnen Person abhängt oder daß die niederkommende Bethan in London keine Freundin hat, die ihr beistehen könnte. Schließlich ist es nicht so lange her, daß eine Geburt reine Frauensache war und die Männer fortgeschickt wurden.

Dennoch ist dieses „fahrende Kammerspiel“ keine Minute langweilig. Dafür lohnt es sich sogar, ein Fußballspiel der gerade laufenden Weltmeisterschaft zu verpassen.

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