© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/14 / 20. Juni 2014

Letztes Aufgebot der Schuldstolzen
Die „Zeit“ und ihr akademischer Volkssturm im letzten Gefecht gegen Christopher Clark und Co.
Oliver Busch

Mit seiner „Die Schlafwandler“ betitelten, die Schuldfrage neuverhandelnden Untersuchung zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges (JF 42/13), hat der in Cambridge lehrende Historiker Christopher Clark eine breite internationale Diskussion angestoßen, die jedoch nirgends sonst so lebhaft geführt wird wie in Deutschland. Daß auch die nahezu zeitgleich veröffentlichten monumentalen Weltkriegsdarstellungen von Herfried Münkler (JF 7/14), Jörn Leonhard (JF 12/14) und Jörg Friedrich die geschichtspolitische Legende von der deutschen „Hauptschuld“ am „Großen Krieg“ hinter sich gelassen haben, erhöhte die Durchschlagskraft des revolutionären Werkes von Clark, das in Rußland, Frankreich und Serbien jene Kräfte ausmacht, die am meisten entschlossen waren, die im August 1914 anhebende „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts zu riskieren.

Angesichts des schon amtlich beglaubigten Geschichtsbildes, das Gerhard Schröder wie Angela Merkel animierte, ihr Bekenntnis zur „Alleinschuld“ von 1939 enthemmt auf 1914 auszudehnen, erstaunt es, wie rasch sich Clarks Revisionismus Bahn gebrochen, wie fest sich seine Deutung bereits heute etabliert hat.

Es beginnt einsam zu werden, um die Hüter des deutschen „Schuldstolzes“, die nun den akademischen Volkssturm mobilisieren müssen. So den 83jährigen Emeritus Hans-Ulrich Wehler, der in der FAZ-Gnadenbrot mümmelnden Frankfurter Rundschau sichtlich verwirrt Fritz Fischer gegen Clark verteidigte (JF 4/14), den 75jährigen Ulmer Pädagogik-Professor Ulrich Herrmann oder den 76jährigen Wilhelm II.-Biographen John C. G. Röhl, beide von der Zeit-Redaktion ins Rennen geschickt.

Das linksliberale Wochenblatt profiliert sich überhaupt, beginnend mit der abschätzigen Besprechung durch den Ex-Ressortchef Volker Ullrich, als Regiezelt dieser Rückzugsgefechte. Kein Wunder, denn man fürchtet, viel zu verlieren. Mit Clarks als unzulässiger „Freispruch“ für die wilhelminische Führungselite gewerteten Neuinterpretation wankt das antideutsche Weltbild in Hamburg-Speersort. Über ein Vierteljahrhundert hinweg, in der Ära des für Zeitgeschichte zuständigen Redakteurs Karl-Heinz Janßen, machte keine andere westdeutsche Zeitung sich so rückhaltlos die Ansichten Fritz Fischers zu eigen, keine öffnete ihre Spalten seit 1962 so häufig, um die geschichtstheologisch motivierte Auffassung des gelernten protestantischen Kirchenhistorikers zu propagieren, der wilhelminische „Griff nach der Weltmacht“ habe die Politik des Deutschen Reiches, auf dem hergebrachten Sonderweg rüstig voranschreitend, über Verdun schnurgerade nach Stalingrad und Auschwitz geführt.

Um sich dieses ideologische Konstrukt, dessen frühe Wirkungsgeschichte in Gunter Sprauls vorzüglicher Analyse des „Fischer-Komplexes“ (Halle, 2011) nachzulesen ist, nicht ausgerechnet von einem Historiker aus dem angebeteten „Westen“ zerstören zu lassen, erscheinen seit Monaten unter dem Motto „Von wegen Schlafwandler“ Zeit-Polemiken gegen Clark. Ein erster Tiefpunkt war mit Ulrich Herrmanns „Erziehung für Verdun“ (Die Zeit vom 9. Februar 2014) erreicht. Der Bildungshistoriker wartete darin mit der sensationellen Erkenntnis auf, die Entfesselung des Weltkrieges müsse allein deswegen auf Deutschlands Konto gehen, weil die Jugend des Kaiserreichs im „vaterländischen Unterricht“ und im naturfrohen Geländespiel des „Wandervogel“ mental „militarisiert“ worden sei. Lieber unerwähnt bei dieser Klitterung ließ Herrmann, daß sich in Frankreichs Schulbüchern zwischen 1871 und 1914 ein Chauvinismus auslebte, gegen den der preußisch-deutsche ein laues Lüftchen war, daß die vormilitärische Ausbildung an US-Hochschulen zum sportlichen Pflichtunterricht zählte, oder die simple Tatsache, daß um 1900 ausnahmslos jeder Nationalstaat seinen Nachwuchs auf den „Ernstfall“ der „wehrhaften Selbstbehauptung“ vorbereitete.

John C. G. Röhl wird gegen Clark in Stellung gebracht

Sind Herrmann als historiographisch dilettierendem Pädagogen immerhin mildernde Umstände zuzubilligen, gilt dies für den Briten John C. G. Röhl nicht, den die Zeit als „einen der besten Kenner der wilhelminischen Epoche“ präsentiert. Dieser famose Kenner erinnere an „fast vergessene Dokumente“, die gegen Clark bewiesen, das Kaiserreich sei mitnichten in den Krieg „hineingeschlittert“ (Die Zeit vom 22. Mai 2014). Pech nur, daß die von ihm mit Aplomb zitierten Äußerungen aus dem militärischen Umfeld Wilhelms II. weder vergessen sind noch Röhls schräge Variante der Fischer-Thesen beweisen, die Generalität habe im Attentat von Sarajevo den Vorwand erkannt, um endlich den lange geplanten „Präventivkrieg“ vom Zaune zu brechen.

Röhl seinerseits scheint hier etwas zu „vergessen“, nämlich den Primat der Politik. Weder Kaiser noch Reichskanzlei und Auswärtiges Amt wollten mit einem Präventivkrieg zum „günstigsten Zeitpunkt losschlagen“. Und sie, nicht die von Röhl fälschlich so bezeichneten Militärs, waren „die Entscheider in Berlin“. Aber selbst die Lageeinschätzungen des jüngeren Moltke oder des Militärkabinettschefs von Lyncker belegen partout kein „Drängen auf einen Kontinentalkrieg“, sondern nur ein unverbindliches Räsonieren über die internationale Kräftekonstellation.

In der Zeit darf man sich trösten, kein Exklusivrecht auf derartige Blamagen zu besitzen. Im Handelsblatt, das seine Wochenendausgabe vom 16. Mai dem Schwerpunktthema „Generation Halbwissen“ widmete, erlaubt man Michael Brackmann, offenkundig dieser geschmähten Alterskohorte entstammend, ein paar Seiten weiter, Annika Mombauers Broschüre über die Julikrise 1914 (JF 12/14) gegen Clark auszuspielen. Aus Mombauers Sektion der Kabinettsdiplomatie zwischen Sarajevo und russischer Mobilmachung könne man lernen, daß Clarks „‘Unfallthese’ die historische Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit verzerrt“.

Brackmanns Empfehlung benötigte die in England lehrende Mombauer freilich nicht, um bei der Bundeszentrale für politische Bildung, einer anderen Bastion altbundesdeutscher Mythenpflege, zu Worte zu kommen. Im Weltkriegs-Heft von deren Organ Aus Politik und Zeitgeschichte (16-17/2014) wundert sie sich zwar darüber, daß inzwischen nur noch wenige Stimmen der in den deutschen Medien aufgekommenen Erleichterung darüber widersprächen, dank Clark die Schuld am Kriegsausbruch von 1914 von sich weisen zu können. Ihre eigene Position bekräftigt sie aber um so trotziger im Anschluß an den Leitaufsatz des emeritierten Düsseldorfer Historikers Gerd Krumeich, der „kategorisch“ an seiner Überzeugung festhalte, die „Erpressungs- und Bluffpolitik der deutschen Regierung“ trage die „größte Verantwortung“ für die „Entfesselung“ des Ersten Weltkrieges.

Foto: Besucher in der Ausstellung „1914–1918. Der Erste Weltkrieg“ im Deutschen Historischen Museum; „Zeit“-Schwerpunktheft: Sich stets und rückhaltlos die Ansichten Fritz Fischers zu eigen gemacht

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen