© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

Die Schere im Kopf
Meinungsklima: Heute zensiert nicht mehr der Staat, sondern die „Zivilgesellschaft“
Michael Paulwitz

Eine Zensur findet nicht statt – jedenfalls keine staatliche mit Zensoren, Schere und Rotstift. Wegen Meinungsäußerungen muß heute auch niemand ins Gefängnis, sieht man einmal von Verstößen gegen zeitgeschichtliche Festlegungen im Strafgesetzbuch ab. So gesehen genießen wir in Deutschland durchaus einen vergleichsweise hohen Standard an Rede-, Meinungs- und Pressefreiheit. Selbst der zur Neutralität verpflichtete Bundespräsident hat die höchstrichterlich bestätigte Freiheit, die Anhänger ihm unsympathischer Parteien als „Spinner“ zu verunglimpfen.

Von anderen Zensurmechanismen schweigt das Grundgesetz; sein Grundrechtekatalog steht ja in der zweihundertjährigen liberalen Tradition, die individuelle bürgerliche Freiheitsrechte gegen obrigkeitliche Willkür zu erkämpfen und zu sichern suchte. Eine von der Verfassung nicht vorgesehene gesellschaftliche Zensur bewirkt, daß in Deutschland, aller formal garantierten Gesinnungsfreiheit zum Trotz, ein verdruckstes, ungesundes, von verinnerlichten „Das sagt man nicht“-Tabus eingeschüchtertes Meinungsklima herrscht, in dem ungeschriebene Vorschriftenkataloge vorzugeben scheinen, worüber man überhaupt spricht – und wie. Die Schere liegt nicht auf dem Tisch des Zensors, sie steckt in den Köpfen – nicht nur in denen der Journalisten, Autoren und Verleger, sondern in nahezu jedem, der um seinen gesellschaftlichen Ruf besorgt und auf öffentliche Anerkennung bedacht ist.

Eine politische Prüderie hat sich ausgebreitet, die sich von der viktorianischen darin unterscheidet, daß nicht die allzu freizügige Ansprache höchst privater und intimer Angelegenheiten die automatische gesellschaftliche Ächtung nach sich zieht, sondern die Weigerung, zu allem und jedem die für richtig befundene Meinung zu haben. Damit wird der totalitäre Traum der Achtundsechziger wahr: Das Private wird politisch und öffentlichem Kontroll- und Rechtfertigungsdruck unterworfen.

Nach Beispielen, die diesen Befund stützen, brauchen wir nicht lange zu suchen. Ein christdemokratischer Lokalpolitiker und Nachwuchsfunktionär, der aus seiner christlichen Überzeugung heraus die „Glorifizierung von Homosexualität“ ablehnt und für den die Abschaffung des Homosexuellen-Paragraphen im Strafgesetzbuch kein „Grund zum Feiern“ ist – und der dafür beim ersten Wehen des medialen Proteststurms Parteibuch und Ämter verliert.

Ein Verfassungsschutz-Chef in Sachsen, der unter Rechtfertigungszwang steht, weil er Mitglied einer Burschenschaft ist und damit just in der Tradition jener Bewegung steht, die die im Grundgesetz fixierten Freiheitsrechte maßgeblich mit erkämpft hat; und der die Wartburg-Stiftung, im eifrigen Bestreben, nur ja auf der richtigen Seite zu stehen, künftig den Zutritt zu diesem für eben jenen Freiheitskampf zentralen Ort verwehren will.

Natürlich ist es eine legitime Meinung, Gegner von Homo-Ehe und Kinder-Frühsexualisierung für rückständig, Burschenschaften für von gestern und unbeschränkte Masseneinwanderung für den Schlüssel zum Paradies zu halten. Ebenso legitim ist es allerdings auch, solchen Meinungen zu widersprechen. Pervertiert wird die Meinungsfreiheit, wenn einzelne Interessengruppen ihre Diskurshegemonie dazu mißbrauchen, durch gesellschaftliche Mobilisierung und Kampagnenstimmung abweichende Meinungen ächten, kriminalisieren und eliminieren zu wollen.

Das unstillbare Verlangen, andere Meinungen zu verbieten und deren Träger liquidieren zu wollen – einst wortwörtlich durch physische Vernichtung des Abweichlers, heute durch gesellschaftliche –, wohnt linkem Denken so inne wie die Begriffsverwirrung, mit der der Frontalangriff auf die Freiheit getarnt wird. Wer mit den Wölfen heult, darf „Zivilcourage“ für sich in Anspruch nehmen. Dabei wird sich der gegen eine Splitterpartei so verbalmutige Joachim Gauck auch künftig hüten, Leute, die schon Kindergartenkinder mit Gender-Theorie oder Homo-Ehe traktieren wollen, als „Spinner“ zu bezeichnen, obwohl auch diese Meinung zu haben und zu äußern sein gutes Recht wäre.

Gern leugnen die gesellschaftlichen Zensoren ihre Macht mit dem perfiden Hinweis auf die Verkaufserfolge von Dissidenten wie Thilo Sarrazin oder Akif Pirinçci. Dabei könnten gerade diese Autoren umgekehrt als Beleg herhalten, daß Meinungsfreiheit ein Luxus geworden ist, den man sich nur unter besonderen Umständen und bei großer materieller Unabhängigkeit leisten kann. Und die Verbots- und Maßregelungsphantasien, die gegen die Sarrazins dieser Republik regelmäßig laut werden, beweisen vor allem, daß die gesellschaftliche Zensur letzten Endes die Wiedereinführung der staatlichen Zensur anstrebt.

Die Ansätze dazu sind vorhanden, wenn Meinungshegemone sich den Konformismus und Opportunismus von Politikern und Parteien zunutze machen, um staatliche Machtmittel für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Sondergesetze gegen „Haßdelikte“, staatliche Programme „gegen Rechts“, gegen „Homo“-, „Islamo“- und sonstige erfundene „Phobien“ oder für die mit finanziellen und administrativen Sanktionen erzwungene Durchsetzung von „Gender“- und anderen Ideologien sind der Einstieg in die Restauration der Zensoren.

Die Verteidigung der Meinungsfreiheit ist daher das Gebot der Stunde, und sie ist nicht aussichtslos. Oft reicht schon ein wenig kühles Blut und Standhaftigkeit: Die meisten Proteststürme und Kampagnen sind nur deshalb erfolgreich, weil so viele schon aufs erste Stichwort davor in die Knie gehen. Für eine Richtungsänderung bedarf es mitunter nur einer kleinen kritischen Masse Mutiger, die „Ich nicht!“ sagen.

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