© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

Gebrochene Krieger
Kanada: Eine Spirale aus Gewalt, Haß, Kriminalität, Drogen- und Trinksucht hat die Ureinwohner fest im Griff / Die Schuld suchen sie bei den Weißen
Marc Zöllner

Graue Wände, brüchige Kabel, die ohne Isolationsschicht an den Regenrinnen baumeln. Das Balmoral Hotel sieht nicht schmuck aus, weder von außen noch von innen. Mit acht Stockwerken ist es eines der höchsten Gebäude in den Elendsvierteln Vancouvers. Oben befinden sich für verschiedenste Klientelen Stunden-, Tages- und Monatszimmer zur Miete, im Erdgeschoß die Kleinraumdiskothek „Balmoral Bar“, rund dreißig mal vierzig Meter, inklusive Bierausschank. Die Nachbarschaft warnt dringlich davor, hier unbedarft trinken zu gehen. „Die Balmoral Bar sollte man meiden als Weißer und als Asiate“, rät ein Restaurantbesitzer in der Nähe. „Das ist Indianerterritorium, dort regiert die Gewalt.“

Tatsächlich verraten bereits die beiden dauerhaft vor der Eingangstür geparkten Polizeiwagen, daß die Balmoral Bar kein gewöhnlicher Platz zum Feiern ist. Auf der schmalen, behindertengerechten Rampe zum Tanzsaal lungern einige Jugendliche, drehen sich Joints und mustern die Passanten nach ihrem Einkommenswert. Zutritt gewährt wird nur dem, der kaufkräftig wirkt – oder Indianer ist. Im Innern der Bar tanzt niemand. Die meisten der rund einhundert Gäste, die sich Abend für Abend dort treffen, sitzen schweigend beim Bier zusammen oder gehen auf den zwischen den als Totempfähle dekorierten Säulen bereitstehenden Couches konspirativ ihren dunklen Geschäften nach. Zu freundlichen Gesprächen mit Fremden, gerade mit Weißen, zeigt sich kaum jemand bereit. Zu tief sitzt der Haß, aber auch die Angst vor Problemen mit Bundesagenten und Zivilpolizisten.

Im gesamten Saal riecht es nach Kot und Urin

Wer als Europäer an Indianer denkt, hat meist farbenfrohere Motive im Kopf. Bunte Bilder von stolzen, mit Federn geschmückten Indianern, die auf dem Rücken ihrer Pferde in den Prärien des Mittleren Westens ihre Beute erlegen, bestimmen noch immer die idealtypischen Vorstellungen der Alten Welt von den Ureinwohnern Nordamerikas. Traumfänger, Regentänze und Keramikkulturen gehören für Europa ebenso unzertrennlich zur indianischen Alltagskultur wie die Freiheitsliebe und die Friedenspfeife.

Die erschreckende Wirklichkeit zeigt sich erst in der Balmoral Bar. Die Türen zu den sanitären Einrichtungen fehlen komplett. Vor langer Zeit schon hat sie jemand aus den Angeln gehoben und auf den Müll geworfen. Im gesamten Saal riecht es nach Kot und Urin. „Das muß so sein, damit die Jungs nicht auf dumme Gedanken kommen und sich im Bad Heroin spritzen“, erklärt der Barkeeper, ein grimmig dreinblickender junger Indianer mit Adidas-T-Shirt und Goldkettchen. „So hab ich sie gleich immer im Blick.“

Daß seine Worte nicht leer sind und er notfalls auch gewaltsam für Ruhe in seiner Kneipe sorgt, beweist er nur wenige Minuten danach. Ein Gast rempelt das Tablett einer Kellnerin an. Kaum fünf Sekunden später bricht er unter Faustschlägen und mit aufgeschlagener Stirn auf dem Boden zusammen. Drei stämmige Ureinwohner erscheinen, packen ihn an Armen und Beinen und werfen den Betrunkenen achtlos vor die Tür. Die wenigen Kunden von außerhalb schauen betroffen zu. Die zahlreiche Stammkundschaft dreht sich nicht einmal um.

Schlägereien wie diese sind Alltagserlebnisse in den Slums der pazifischen Weltmetropole. Autonomie und Selbstverwaltung zählen in vielen indianischen Gemeinden mehr als Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit. „Seht her“, könnte von daher auch die Lektion des gewaltsamen Rauswurfs lauten: „In unserem Gebiet sorgen wir selbst für Ordnung. Wir brauchen die weißen Polizisten vor der Tür nicht.“

„Zwischen uns Ureinwohnern und den Weißen klaffen in der Tat überall tiefe Lücken, weswegen wir lieber unter uns bleiben“, erklärt Dan. Der 33jährige stammt aus Chilliwack, einer Siedlung gut zwei Autostunden östlich von Vancouver. Nach der Schule zog es ihn des Geldes wegen in die Großstadt. Doch obwohl er fleißig und gut gebildet ist, fällt es ihm schwer, im Berufsleben Fuß zu fassen. Seit mehreren Jahren sieht er sich gezwungen, als Wächter zu jobben. „Meine Schichtleiter schicken mich manchmal zwei Tage am Stück zu Projekten“, erzählt der stämmig gebaute Angehörige des Salish-Volks resigniert. „Dann bewache ich tagsüber Wochenmärkte, nachts ein Spielkasino und am darauffolgenden Tag erneut den Markt.“

Trotz alledem reicht sein karges Gehalt kaum, um über die Runden zu kommen. Voller Stolz berichtet er, zumindest seine Drogenprobleme hinter sich gelassen zu haben. Als Zeichen des Durchhaltewillens zieren seitdem die Krallen zweier tätowierter Berglöwen die Haut auf Dans Händen. „Die Weißen interessieren sich nur für unsere Geschichte, nicht jedoch für unsere Gegenwart“, beklagt er. „Und die Chinesen interessiert überhaupt nichts an uns.“


Die Gefängnisse stecken voller Indianer

Dabei hofften die europäischen Einwanderer und Ureinwohner gerade im hohen Norden des amerikanischen Kontinents ursprünglich auf eine gemeinsame Zukunft. Im Tawagonshi-Abkommen vom Herbst 1613, von den Ureinwohnern respektvoll der „Großvater aller Verträge“ genannt, sicherten die größtenteils aus Holland stammenden Kolonisten der Ostküste den Irokesen stellvertretend für sämtliche Indianervölker zu, künftig „nicht wie Vater und Sohn, sondern wie Brüder“ miteinander umgehen zu wollen, „solange die Sonne scheint und das Gras grün wächst“.

Mit der Eroberung der gewaltigen nordamerikanischen Territorien durch Briten und später auch US-Amerikaner blieb nicht viel übrig vom einstigen Geist der Verbundenheit. Der Großteil der Ureinwohner fristete fortan unfreiwillig sein Dasein in abgeschiedenen Reservaten. Die wenigen Zugeständnisse der weißen Siedler erwiesen sich bald als kontraproduktiv. Zwar profitierte manch Häuptling oder Stammesrat von den Einnahmen aus legalisiertem Glücksspiel, dem zollfreien Verkauf von Zigaretten und dem Recht, lizenzlosen Alkohol zu brennen. Die große Mehrheit der Indianer kämpft seitdem aber mit den alltäglichen Problemen der Drogen- und Spielsucht.

Zusammen mit der grassierenden Arbeitslosigkeit eine brisante Mischung, die sich in den Kriminalitätsstatistiken widerspiegelt. Zwar rechnen sich gerade einmal vier Prozent der rund 35 Millionen Einwohner Kanadas den sogenannten First Nations, den Ureinwohnern Nordamerikas zu. In den kanadischen Gefängnissen sind sie mit 27 Prozent aller inhaftierten Straftäter aber deutlich überrepräsentiert. In den Nordwest-Territorien, in denen laut Zensus die Hälfte der Bürger den Indianern – Métis oder Eskimo – angehört, beträgt der Anteil der Ureinwohner an den Gefangenen sogar erschreckende 90 Prozent.

Indianische Reservate gelten als die Armenhäuser Kanadas. Eine im Sommer letzten Jahres publizierte Studie offenbarte, daß mittlerweile jedes zweite Kind indigener Abstammung, in den Provinzen Manitoba und Saskatchewan sogar zwei Drittel aller Minderjährigen, unterhalb der Armutsgrenze leben muß. In den indianischen Siedlungen im Staat New Brunswick verfügt jeder Haushalt über durchschnittlich umgerechnet weniger als 7.000 Euro Jahreseinkommen. Die Verarmung der breiten Masse der Indianer stellt insbesondere auch die Regierung vor künftige gravierende Probleme: Immerhin wachsen sie als Bevölkerungsgruppe am schnellsten.

Private Organisationen wie „Idle No More“ und „Save the Children“ versuchen die uneingestandene Kapitulation des Staates abzufangen. Sie haben für die First Nations ein Drei-Punkte-Programm entwickelt, das die hohen Selbstmordraten unter Indianern verringern, den familiären Zusammenhalt stärken und die indianische Sprache pflegen soll. Nicht überall stoßen solche Initiativen jedoch auf Wohlwollen. „Diese Weißen wollen doch nur ihre Ärsche auf wichtig klingende Chefsessel gesetzt sehen“, klagt zum Beispiel Angel. Die bildhübsche Mitdreißigerin ist mit zwölf Jahren vor ihren Eltern geflohen. Alkohol und häusliche Gewalt waren auch hier die Hauptgründe.

Seitdem schlägt sie sich in den Slums von Vancouver durch, verkauft dort ihren Körper und ihren Stolz. Die Hilfe privater Wohlfahrtsorganisationen akzeptiert sie wie viele ihrer Freunde erst dann, wenn dort Indianer im Vorstand vertreten sind. Bis dahin fordert sie von den Weißen Kanadas vor allem eines: „Ich möchte keine Almosen, sondern Respekt“, erzählt sie. „Das fängt schon beim Namen an. Andere Rassen sollten uns nicht Indianer nennen. Das sind wir für uns, für euch aber besser Aboriginals (Ureinwohner). Wobei – für nette Europäer dürfen wir auch schon mal Indianer sein. Ihr kennt uns ja nicht besser.“ Lächelnd verschwindet sie auf der Tanzfläche der Balmoral Bar.

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