© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

Dorn im Auge
Christian Dorn

Graphic Novel 1.0. Vor der Haustür beginnt endlich die Nachrüstung. Der Araber auf der anderen Straßenseite, schon seit Jahren jeden neuen Angestellten auf den vermeintlich rechtgläubigen Weg des Islam zurückführend, hat seine Falafel-Stube noch immer nicht „Basmala“ genannt. Dabei wäre es folgerichtig, hat er doch auch über dem Türbogen seines Lokals eine leicht schief hängende, gerahmte Tafel angebracht, auf der in goldenem Schriftzug die 99 Namen Allahs prangen. Doch jetzt kommt Verstärkung aus Mitte: Ein neuer Tattoo-Laden, der auf Blut & Eisen schwört, hat über seinem Durchgang in Sütterlin – einer gemeinhin ähnlich geheimnisvollen Kalligraphie – den vierzeiligen Vers des Dichters und Freiwilligen der Befreiungskriege Max von Schenkendorf auf die Wand gebannt: „Denn nur Eisen kann uns retten, / Uns erlösen kann nur Blut / Von der Sünde schweren Ketten, / Von des Bösen Übermut.“ Legendär wurden diese Zeilen mit der berüchtigten „Blut und Eisen“-Rede Bismarcks 1862, mit der er die Liberalen zur Billigung der finanziellen Mittel für die Heeresreform bewegen wollte. Dort lautet das Fazit: „Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.“

Im Hayek-Club in Berlin-Mitte, dessen Räumlichkeit in einem DDR-Plattenbau der 1980er Jahre beheimatet ist, hält Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) einen Vortrag. Ein libertärer Wortführer stellt dem ehemaligen Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand die Gretchenfrage, die hier lautet: „Befürworten Sie noch immer den Ankauf illegaler CDs mit gestohlenen Daten von Bankkunden?“ Sarrazin, der zu Beginn als „der mutigste Denker“ des Landes vorgestellt worden war, bejaht die Frage ohne Umschweife – und wirft damit eine neue auf. Deutschland oder Rechtsstaat: Was wird zuerst abgeschafft?

Nachts auf der Straße des 17. Juni – nach Hause ziehende Fußballfans und letzte Grüppchen des Christopher Street Days. Eine Imbißbude wirbt für „Die gute alte DDR-Kettwurst“. Ein Besucher an dem daneben befindlichen Barstand beschwert sich über den verlangten Pfand für den Caipirinha-Becher: Dafür werde Trittin noch einmal standrechtlich büßen müssen. Treffe danach auf eine hübsche 16jährige Lesbe, die zwar nicht weiß, ob Spandau ehemaliges Ost-Berlin ist, aber mir dafür ihren Vornamen erklären kann: Es ist die Koseform von einer Pokémon-Figur.

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