© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

„In gewisser Weise hat man ihn vogelfrei gemacht“
Willkür der Staatsgewalt: Ein Kunsthistoriker, ein Jurist und ein Journalist ziehen ein Fazit aus dem „Fall Gurlitt“
Sebastian Hennig

Der Jurist Ralf Oehmke, der Kunsthistoriker Raimund Stecker und der Journalist Stefan Koldehoff führten zu Beginn dieses Jahres ein Gespräch über die Ereignisse um den Kunstsammler Cornelius Gurlitt und die Beschlagnahme von dessen Bildern (die JF berichtete mehrfach). In der vorangegangenen Berichterstattung anderer Medien mußten immer wieder angeblich spektakuläre Neuigkeiten dazu herhalten, das Unbehagen an der uralten, ewiggleichen Willkür der Staatsgewalt gegen den einzelnen zu übertönen. So ist es fast hilfreich, daß dieses Büchlein im Sinne eines oberflächlichen Aktualitätsverständnisses nicht mehr auf dem letzten Stand der Dinge ist. Um so mehr ist es nämlich auf der Höhe der Zeit. Das Erscheinen hat sich nun mit Gurlitts Tod am 6. Mai dieses Jahres überschnitten.

Es gibt eine ganze Reihe von Befangenheiten im Zusammenhang mit der modernen Kunst, ihrer Verfechtung, Ächtung und schließlichen Wiedergeburt als Fetisch und Kapitalanlage. Diese Konventionen schlagen auch in diesem Gespräch immer wieder durch. Es wird wiederholt nach einer weiteren Institutionalisierung der Provinienzforschung verlangt.

Aber das zählt kaum im Hinblick darauf, daß hier einige grundsätzliche Tatsachen zum erstenmal geschlossen zum Vortrag gelangen. So spricht Raimund Stecker in der Einleitung vorbehaltlos von den Verdiensten des Vaters Hildebrand Gurlitt und fragt: „Woher sollte 1950 (…) das Vertrauen in staatliche Stellen stammen, vor diesen die Wahrheit offen auszusprechen – seien es alliierte oder neubundesrepublikanische? Dominierte nicht damals wie heute administrationserotische Sinnenfeindlichkeit?“

Und Stefan Koldehoff gibt zu bedenken: „Die Frage, was GI’s nach dem Krieg mit nach Amerika genommen haben, ist doch weitgehend tabuisiert.“ Er spricht davon, daß „ein systematischer Diebstahl stattgefunden hat“, und bedauert die Verlogenheit des jüngsten Hollywood-Films zum Thema.

Stecker deutet an, daß das Geschehen um Cornelius Gurlitt kein Einzelfall ist, und wünscht sich bei derartigen Übergriffen der Staatsgewalt wenigstens mehr Einfühlung in das Seelenleben der Sammlerpersönlichkeit.

Gurlitt hätte sich vielfältig juristisch wehren können

Er verweist zudem darauf, daß die beispiellose Erfolgsgeschichte des Handels mit der gesamteuropäischen zeitgenössischen Kunst in Deutschland nicht nur mit den später verfolgten und benachteiligten und nun darum idealisierten Kunsthändlern zu begreifen sei: „Die haben ja gut gelebt, und sie konnten nur gut leben, weil sie gut verkauft haben. Und sie konnten nur gut verkaufen, wenn sie Enthusiasten hatten als Sammler. Und die politische Brille bei Osthaus und von der Heydt versperrt zum Teil das Positive ...“ Stecker legt den Finger instinktiv auf die richtige Stelle, wenn er sagt: „Diese Trennung, die wir machen zwischen jüdischen Deutschen und nicht-jüdischen Deutschen, war zur damaligen Zeit weniger präsent, als wir es heute versuchen hineinzukriegen.“

Der Anwalt Ralf Oehmke erwähnt die vielfältigen Möglichkeiten, mit denen Cornelius Gurlitt nach geltendem Recht sich hätte wehren können. Dagegen bemerkt Stecker: „Cornelius Gurlitt kann ja nirgendwo mehr leben. Das geht ja nicht mehr.“ Worauf der Jurist zugestehen muß: „Aber in gewisser Weise hat man ihn vogelfrei gemacht.“

Für das bundesrepublikanische Selbstverständnis von einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung war diese Affäre eine tödliche Infektion. Es bleibt nur zu hoffen, daß dabei genügend Antikörper gebildet wurden, um Rückfälle in dieses Fieber zu überstehen. Das Buch schildert den Erkrankungsverlauf und macht Vorschläge zur Therapie.

Stefan Koldehoff, Ralf Oehmke, Raimund Stecker: Der Fall Gurlitt. Ein Gespräch. Nicolai, Berlin 2014, broschiert, 144 Seiten, 9,95 Euro

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