© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/14 / 04. Juli 2014

„Diese These ist unhaltbar“
Im Juli 1914 kommt es zur großen Krise, die Deutschland angeblich nutzt, die Welt in einen globalen Krieg zu stürzen. Nein, sagt nicht nur Autor Christopher Clark, sondern auch der Historiker Gerd Krumeich, der in der entbrannten Debatte Clark sekundiert und ihn kritisiert.
Moritz Schwarz

Herr Professor Krumeich, getrieben von paranoider Zukunftsangst brach Deutschland den Ersten Weltkrieg vom Zaun.

Krumeich: Nein, das ist mir zu holzschnittartig.

So erklären Sie das Entstehen des Krieges in Ihrem Buch.

Krumeich: Wie kommen Sie darauf?

Siehe Seite 184.

Krumeich: Wäre ich Ihr Lehrer, müßten Sie heute nachmittag nachsitzen.

Und was würde ich da lernen?

Krumeich: Beim Lesen genauer hinzuschauen.

Beherrscht von „fatalistischem Denken“ , „darwinistischen Obsessionen“ und „regelrechten Phobien“ – so beschreiben Sie den damaligen Geisteszustand der Deutschen –, haben sich diese „auf ein Vabanquespiel eingelassen“, „das Pulverfaß in Brand gesteckt“ und tragen die „Hauptverantwortung für den Ausbruch des Krieges“.

Krumeich: Die Zitate stimmen, aber Sie haben sie aus dem Kontext genommen. Tatsache ist, nicht nur in Deutschland, in den meisten Kulturnationen wurde damals so gedacht: Weltmacht oder Niedergang – das ist schließlich der Kern des Imperialismus.

Nicht kapitalistisches Gewinnstreben?

Krumeich: Nein, hinter dem Phänomen des Imperialismus steckte die fast zwanghafte Vorstellung der europäischen Kulturvölker von der Expansion als einzigem Weg, das Überleben zu sichern. Der Sozialdarwinismus war eben die Religion der Zeit, er hatte quasi die christliche Religion im Denken der Gebildeten ersetzt, die hatten nun eine neue, naturwissenschaftliche Überzeugung. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern ebenso für England, die USA, auch – aber nicht so sehr – für Frankreich ...

Warum nicht so sehr für Frankreich?

Krumeich: Weil Frankreich damals schon ein bißchen wie heute war: Es galt als sinkende Macht, die ihren Höhepunkt überschritten hatte.

Aber bekanntlich hat doch der typische deutsche Nationalcharakter zum Ausbruch des Krieges geführt.

Krumeich: Also bitte, mit solcher Metaphysik kann ich nichts anfangen. Als Historiker beobachte ich die Menschen von damals und sehe, daß sie in allen Nationen anfingen, von einem aus ihrer Sicht nötigen Verteidigungskrieg zu sprechen – sogar die Internationalisten. Und daß man sich in Deutschland, selbst fast bis zum letzten Sozialdemokraten, von fremden Mächten „eingekreist“ fühlte, kommt nicht von ungefähr.

Das klingt gefährlich nach der „reaktionären“ Schule des Historikers Gerhard Ritter.

Krumeich: Ich bedauere heute, einige Bücher von Historikern der Ritter-Schule nicht genauer gelesen zu haben.

Wegen solcher Äußerungen werden Sie heute selbst als reaktionär qualifiziert.

Krumeich: Zumindest von der Jungen Welt. Es macht mich traurig, daß diese Zeitung mich lieber verurteilt, statt verstehen zu wollen, was ich tatsächlich sage. Schließlich rede ich ja auch mit Ihnen, einem Blatt, das eine rechtskonservative Tendenz haben soll – aber das ist mir egal, solange Sie bereit sind, zuzuhören und zu diskutieren. Die Generation Ritter erklärte den Ersten Weltkrieg so: Wir wurden eingekreist und mußten uns verteidigen. Dann kam die Generation Hans-Ulrich Wehler, Fritz Fischer und Wolfgang Mommsen, der mein Lehrer war, und sagte: Nein, wir haben uns „ausgekreist“! Und sie hatten in gewisser Weise recht. Doch dann begann Fischer diesen Aspekt zu verabsolutieren und folgerte, Deutschland habe „nach der Weltmacht gegriffen“, gar den Weltkrieg ab 1912 zielstrebig geplant – das aber ist unhaltbar.

Doch um eben das zu sagen, wird etwa der renommierte Historiker John C. Röhl derzeit von der „Zeit“ bis zum ZDF mit Kußhand eingeladen.

Krumeich: Und das ist einfach nur zum Weinen.

Immerhin, Röhl zitiert Moltke: „Dieser Krieg, den ich geplant und begonnen habe.“

Krumeich: Es ist beinahe ein Fetisch von Röhl, dieses Zitat in geradezu bösartiger Weise zu interpretieren.

Die Redakteure des ZDF waren sichtlich zufrieden.

Krumeich: Natürlich mußte Moltke den Krieg vorbereiten – das war seine Aufgabe als Generalstabschef. Und er hat ihn auch begonnen, nichts anderes schreibe ich in meinem Buch. Aber das heißt nicht, daß er ihn gewollt hat. Dieses Zitat ist von Historikern längst aufs genaueste untersucht und nachgewiesen worden, daß es das, was Röhl und Co daraus folgern, nicht hergibt. Daß das ignoriert und es nun erneut hervorgekramt wird, um Christopher Clark zu widerlegen, ist absurd. Mein Gott, diese Leute hängen damit doch regelrecht in den Rettungsringen – es ist traurig.

Sie gehören selbst zu den Clark-Kritikern.

Krumeich: Weil Clark vieles falsch darstellt, etwa was den Beginn des Krieges angeht.

Wie hat er denn begonnen?

Krumeich: Seit 1911 ist die Lage sehr angespannt: Balkankrisen, Aufrüstung. Daß Frankreich sogar noch mehr rüstet als Deutschland und obendrein den Russen zu rüsten hilft, facht die Einkreisungsfurcht der Deutschen massiv an. Hinzu kommt, daß die Deutschen von geheimen russisch-britischen Marinegesprächen erfahren und ehrlich entsetzt sind. Selbst die nachdenklichsten deutschen Politiker sind nun extrem beunruhigt. Rußland ist dabei, eine Armee mit einer Million Mann zu schaffen, kooperiert mit Frankreich, verständigt sich mit England. Die Deutschen bekommen es mit der Angst, und sie haben ein Problem: Ihr Plan für den Ernstfall ist der sogenannte Schlieffenplan. Der sieht vor, Frankreich schnell zu schlagen, bevor Rußland auf die Füße kommt, um dann – im Westen den Rücken frei – gegen die langsamen Russen kämpfen zu können. Doch die Entwicklung Rußlands droht den Plan zu Makulatur zu machen.

Und da fallen die Schüsse von Sarajevo.

Krumeich: Genau. Und Kaiser Wilhelm II. postuliert: Mit Serbien muß abgerechnet werden! Denn Serbien stellt eine große Bedrohung für Deutschlands einzigen Verbündeten, Österreich-Ungarn, dar. Also dringt der Kaiser darauf, Wien möge Serbien unannehmbare Bedingungen stellen. Aber Wien ist besorgt: Was, wenn Rußland eingreift, das sich doch als Schutzmacht Serbiens versteht? Dann, so der Kaiser, gibt es einen großen Krieg – lieber jetzt als später, wenn der Schlieffenplan nicht mehr funktioniert.

Also irrt Clark und Deutschland ist doch schuld?

Krumeich: Moment! Ich sage ja in meinem Buch, daß Deutschland die Hauptverantwortung für die Auslösung des Krieges trägt. Aber bitte für welchen Krieg? Für den Weltkrieg wie er dann gekommen ist? Nein. Ich möchte, daß hier glasklar zum Ausdruck kommt, daß ich Deutschland nicht die Hauptschuld an dem Krieg zuspreche, der etwa in Verdun oder an der Somme geführt wurde, sondern für einen – so stellte sich Deutschland das vor – kurzen und natürlich siegreichen Schlagabtausch. Einen großen Krieg dagegen hat man allenfalls leichtfertig in Kauf genommen.

Das sagt auch Clark.

Krumeich: Eben. Deutschland will, daß Serbien hart bestraft wird – aber nicht auf dem Weg, über die serbische Frage einen großen Krieg zu provozieren, wie das Fritz Fischer insinuiert hat. Allerdings ist es bereit, diesen zu führen, sollte es von einer anderen Macht dazu provoziert werden. Diese Haltung allerdings haben alle Mächte.

Das sind dann Clarks Schlafwandler.

Krumeich: Das sind Clarks Schlafwandler, genau. Aber selbst diesen großen Krieg hat man sich nicht als einen Weltkrieg vorgestellt, sondern als schnellen Kampf von wenigen Wochen oder Monaten im Stil von 1870/71. Keiner denkt an ein vierjähriges Massensterben, keiner denkt an einen industrialisierten Luft-, Panzer-, Gas- und Stellungskrieg, der durch Abnutzung statt durch Schlachtengeschick entschieden wird. Und ich bin sicher, wäre den Verantwortlichen klar gewesen, was wirklich kommen wird, hätten alle im Juli 1914 versucht den Krieg zu verhindern.

Was genau kritisieren Sie an Clark, wo Sie doch offensichtlich seiner Meinung sind?

Krumeich: Etwa, daß er eine russische und serbische Aggressivität unterstellt, was sich so nicht halten läßt.

Zum Beispiel?

Krumeich: Clark wirft in seinem Buch in unverantwortlicher Weise Sätze hin, die auf eine falsche Fährte führen. Etwa, daß die Serben ihre Antwort auf das österreichische Ultimatum erst formulieren, nachdem sie ein Telegramm „aus St. Petersburg“ bekommen haben, welches bestätigt, daß die Russen eingreifen werden. „Aha“, denkt der unbedarfte Leser: „Diese Russen! Geben Carte blanche!“ Tatsächlich aber handelt es sich um ein Telegramm des serbischen Botschafters in Petersburg, das nur mitteilt, in Rußland würden Soldaten zusammengezogen. Was mir aber wie gesagt am meisten bei Clark mißfällt, ist, wie er die Rolle der Deutschen und Österreicher bei der Entstehung des Krieges herunterspielt: Konkret die Bedeutung ihres Ultimatums, das für Serbien praktisch unannehmbar war und das – wie wir seit langem aus den Dokumenten wissen – auch unannehmbar sein sollte. Denn Berlin und Wien wollten keine Einigungslösung, sondern Krieg gegen Serbien. Nun und das war die Lunte, die – wenn auch ungewollt – dazu führte, daß die ganze europäische Pulverladung hochging.

Allerdings könnte man nach dieser Logik auch sagen, die Russen haben die Lunte gezündet, indem sie im Pulverfaß Europa den serbischen Nationalismus protegierten – oder die Serben, die mit Sarajevo die Ladung in Brand geschossen haben.

Krumeich: Mag sein, aber ebenso wie ich vorhin Verständnis für das Denken der Deutschen geäußert habe – Einkreisungsgefühl, Angst vor Aushebelung des Schlieffenplans, Schutz der Interessen ihres Verbündeten Österreich –, muß ich auch die Russen und Serben verstehen: Die Russen sind die Schutzmacht der Slawen und müssen sich daher für die Serben einsetzen. Serbien wiederum sieht sich von Österreich bedrängt und will für sich, was andere Nationen auch haben: einen großen Nationalstaat. Gleichzeitig gehört all das – das aus der damaligen Zeit heraus subjektiv nachvollziehbare Verhalten der Deutschen, Russen, Serben und anderen Mächte – zur gemeinsamen großen Pulverladung, die Europa schließlich in die Luft sprengte und zu der sie alle beigetragen haben. Für keine Macht war der Frieden das höhere Gut, da nehmen sie sich alle nichts.

Aber darum geht es doch bei der Clark-Debatte: Nicht um die Frage, wer den Krieg technisch ausgelöst, sondern wer ihn moralisch zu verantworten hat. Und da stehen Sie doch eindeutig im Clark- und nicht im Fischer-Lager.

Krumeich: Mein Buch ist sehr viel mehr gegen Clark als gegen Fischer gerichtet.

Bitte? Sie kritisieren Fischer in seiner Hauptthese, Clark nur in den Details.

Krumeich: Clarks absolute Reinwaschung der Deutschen – dagegen schreibe ich mit jeder Zeile an!

Das tut Clark doch gar nicht, im Gegenteil, er betont unermüdlich, Deutschland treffe die gleiche Schuld wie alle anderen.

Krumeich: Das sagt er, aber in der konkreten Darstellung der Ereignisse gewichtet er anders.

Noch mal: Die entscheidende Frage ist, trägt Deutschland die moralische Verantwortung für den Ersten Weltkrieg. Und da sagen Sie und Clark: nein – und stehen damit gegen die bisher dominierende Deutung von Fischer bis Röhl.

Krumeich: Ich stehe in keinem Lager. Aus dieser Polarität will ich raus!

Also ist Clarks Buch Unsinn?

Krumeich: Jetzt kommen sie mit dem anderen Extrem. Nein, im Gegenteil, es ist ein sehr gelehrtes Buch. Ich habe viel daraus gelernt, und ich habe schon vor Veröffentlichung der deutschen Ausgabe in der Süddeutschen Zeitung geschrieben, das Buch sei eine Wucht, und es werde kein besseres kommen.

Das eigentliche Problem ist doch, daß, wenn Sie oder Clark sagen, Deutschland habe keine moralische Hauptschuld am Ersten Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg als Unfall dasteht. Denn ohne die Kriegsschuld von 1914 bricht die Anklagelinie vom ewig kriegslüsternen Charakter der Deutschen, der in Hitler lediglich seinen höchsten Ausdruck gefunden habe, zusammen.

Krumeich: In diesem Punkt bin ich mit ihm einverstanden: Clarks Buch ist in der Tat eine Absage an die Behauptung, wir Deutschen hätten eine Geschichte, die immer nur auf Hitler zugelaufen sei. Nach 1945 wurde Hitler mit Versailles erklärt und damit war irgendwie keiner schuld. Dann kam eine junge Historikergeneration, die diese Heuchelei zu Recht hinterfragt und die Strukturen recherchiert hat. Doch hat das schließlich zu einer Konstruktion geführt – von Bismarck zu Hitler –, die auch nicht stimmte. Und ich meine, da müssen wir heute raus! Deshalb habe ich zum Beispiel auch wieder angefangen, vom Versailler Vertrag zu sprechen. Was mir prompt von halblinks bis halbrechts den Vorwurf eingebracht hat, das möge ja alles historisch richtig sein, aber nationalpädagogisch sei es unverantwortlich! Dabei ist der Vertrag tatsächlich eine Katastrophe – ich hätte ihn übrigens auch nicht unterzeichnet. Und wenn heute so getan wird, als sei er doch eine ganz annehmbare Grundlage gewesen, dann lache ich mich kaputt! Nein, in dieser Hinsicht ist Clark wie ein Befreiungsschlag. Das erklärt auch den ungeheuren Erfolg seines Buches bei uns: Clark ist sozusagen der Medizinmann, der den Deutschen, die sich so sehr nach einer normalen Geschichte sehnen, Heilung bringt. Mit ihm haben wir es „amtlich“: Wir sind auch nicht schlechter als die anderen. Nun, das ist ja richtig, nur dürfen wir ob dieses Glücksgefühls bitte nicht vergessen, wie es ansonsten historisch tatsächlich war.

 

Prof. Dr. Gerd Krumeich, der Emeritus zählt zu den „besten“ (Welt) und „profundesten“ (FAZ) Kennern der Geschichte des Ersten Weltkrieges. Bis 1997 lehrte er an der Universität Freiburg, war dann bis 2010 Nachfolger Wolfgang Mommsens am Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Düsseldorf. In der Süddeutschen Zeitung schrieb Krumeich 2013 über den Beginn des Krieges, es gelte „Abschied (zu) nehmen von der lange quasi sakrosankten These, daß in erster Linie die Weltmachtambition Deutschlands Europa in den Abgrund gestoßen hätte“. Er veröffentlichte etliche Bücher zum Ersten Weltkrieg, etwa „Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich 1914 bis 1918“ (2010) oder „Deutschland im Ersten Weltkrieg“ (2013). Seine Enzyklopädie zum Ersten Weltkrieg gilt als Standardwerk. Jüngst erschien: „Juli 1914. Eine Bilanz“, das nicht den ganzen Krieg untersucht, sondern fokussiert dessen Entstehung, die sogenannte „Julikrise“. Geboren wurde Gerd Krumeich 1945 in Düsseldorf.

Foto: Pistolenpatrone: „Da fallen die Schüsse von Sarajevo und Kaiser Wilhelm II. postuliert: Mit Serbien muß jetzt abgerechnet werden.“

 

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