© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/14 / 04. Juli 2014

„Die Krim kommt zurück – sicher“
Zu Besuch bei den Tataren auf der Schwarzmeer-Halbinsel: Zwischen Normalität und Überlebenskampf
Billy Six

Kleiner Mann, große Bedeutung. Auf ihn trifft das Klischee zu: Mustafa Dschemilow, seit Jahrzehnten Wortführer der Krimtataren und von 1998 bis heute Abgeordneter im ukrainischen Parlament. Der 70jährige, sonst eher medienscheu, empfängt die JF in der Hauptstadt Kiew zum Gespräch. Im schlichten grauen Anzug erscheint ein schmächtiger Greis, 1,60 Meter groß, lichtes Haar. Er spricht leise. Kaum zu glauben, daß dieser Mann der russischen Führung Kopfzerbrechen bereitet. Seit dem 19. April hat Dschemilow seine Heimat, die Schwarzmeer-Halbinsel Krim, nicht mehr gesehen. Die neuen Machthaber des von Moskau annektierten Gebiets haben einen Einreisebann verhängt. „Sie haben Angst vor mir“, so Dschemilow selbstbewußt.

Insgesamt 15 Jahre saß er als Dissident zu Sowjetzeiten im Gefängnis, davon 303 Tage im Hungerstreik, den er nur durch Zwangsernährung überlebte. „Fehlende Freiheit“, sagt Dschemilow, „ist der zentrale Charakterunterschied Rußlands gegenüber der Ukraine.“ Nach der Wende führte der Ex-Häftling die traditionelle Tatarenversammlung „Madschles“ von 1991 bis 2013. „Aber natürlich habe ich meinen Einfluß behalten“, sagt er. Das Abspaltungsreferendum auf der Krim vom 16. März bekämpfte er vehement – die Tataren boykottierten die Abstimmung.

Tatarenchef Dschemilow stellt sich gegen Moskau

Der Erfolg blieb aus. Doch Dschemilow hat eine überraschende Botschaft: „Wir sind sicher, daß die Krim zur Ukraine zurückkommt – und das vielleicht schon nach einigen Monaten.“ Alles andere würde für die internationale Ordnung „als schlechtes Vorbild katastrophale Folgen“ haben. Wer auch immer Putins Nachfolger im Präsidentenamt werde, müsse erkennen, daß eine isolierte Krim ohne freie Touristenströme sterbe – und Rußland an den westlichen Sanktionen leide.

Dabei hatte der Tatarenführer bei seinem Nato-Besuch im März selbst moniert, „keine ernsthaften Schritte des Westens“ zu erkennen. Wladimir Putins Auftritt bei der martialischen Militärparade am 9. Mai in Sewastopol kommentierte Bundeskanzlerin Merkel schlicht als „schade“. Dieser „Tag der Befreiung“ war für die Krim-Küstenstadt, Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, ein ganz besonderer gewesen: Genau 70 Jahre zuvor eroberte die Rote Armee Sewastopol von den deutschen Truppen zurück – und besiegelte damit das Ende der zweieinhalbjährigen Besatzung. Mit dem 18. Mai fügte sich wenige Tage später ein weiterer 70jähriger Gedenktag an – die Vertreibung der Krimtataren von ihrer angestammten Halbinsel. Auch die Familie von Mustafa Dschemilow wurde damals „ausgesiedelt“ – nach Usbekistan.

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte Josef Stalin die Aussiedlung von 189.000 Angehörigen der muslimischen Minderheit angeordnet. 1936 zählte die „Große Sowjetische Enzyklopädie“ noch 202.000. Die Hälfte überlebte den Transport nach Zentralasien in den stickigen Viehwaggons nicht. Tausende Gefangene starben an Durst, Hunger oder Krankheit. Nur wenige Tataren, wie die Familie des Piloten Amet-Chan Sultan, des höchstausgezeichneten nicht-slawischen Soldaten der UdSSR, durften auf der Krim bleiben. Stalin rächte damit die Kollaboration von 15.000 bis 20.000 Krimtataren, die sich in sogenannten Selbstschutz-Einheiten organisiert hatten und die Deutschen als Befreier von den atheistischen Bolschewisten begrüßten. Die Wehrmacht ließ im Gegenzug die tatarischen Kriegsgefangenen frei.

Vor-Ort-Besuch in Bachtschyssaraj. Hier wartet die Familie auf Mustafa Dschemilow. Die einstige Hauptstadt des Tataren-Khanats befindet sich 30 Kilometer nordwestlich von Sewastopol – eingebettet in die Ausläufer des Krimgebirges. Seitdem 1988 den Vertriebenen und ihren Nachkommen die Rückkehr gestattet wurde, stellen die Tataren wieder zwölf bis 15 Prozent der Krim-Population. „Wir hatten unsere Heimat nie vergessen“, so ein örtlicher Familienvater, „und zu Hause immer Krimtatarisch gesprochen und gesungen.“ Die ersten neun Jahre in der Verbannung eines usbekischen Dorfes sei es seiner Familie nicht einmal gestattet gewesen, die Siedlung zu verlassen.

Gemächlich geht es dagegen heute zu im 27.000-Einwohner-Städtchen Bachtschyssaraj. Die meisten Frauen tragen keinen Schleier; einige haben blonde Haare. Die Gesichtszüge weisen keine Unterschiede zu den Russen auf. Das politische Denken schon: Putins Politik wird abgelehnt.

„Die Russen trinken zuviel und sind zu faul“

Auch wenn beide Seiten meist darauf hoffen, sich friedlich aus dem Wege gehen zu können, so stechen doch kulturelle Unterschiede hervor. „Die Russen trinken zuviel, sind faul und mögen das Nacktbaden am Strand“, kritisieren einige Tataren hinter vorgehaltener Hand. Die Gegenseite erklärt ab und an, daß sie den neuen alten Nachbarn „nicht über den Weg traue“, denn sie seien eine verschworene Gemeinschaft, einige von ihnen gar verkappte Terroristen.

Dabei gilt die tatarische „Volksrepublik Krim“, die von Dezember 1917 bis Februar 1918 existierte, als erster säkular-republikanischer Staat der moslemischen Welt. Dschemilow spricht von einer „demokratischen Tradition“, die auf Ausgleich bedacht sei.

Selbst die religiöse Gemeindezeitung, welche fromme Männer davor warnt, sich von Frauen dominieren zu lassen, ist auf russisch abgefaßt. „Al Fatiha“, die eröffnende Sure des Korans, kennen sie alle. Doch damit hört es oft schon auf. Zum Gebet geht nur die Minderheit. Bei einer Hochzeitszeremonie im Innenhof der „Khanserei“ läßt sich Erstaunliches beobachten: Die jungen Besucherinnen sind in kurzen Röcken erschienen. Für den Gang in die Moschee zücken sie zur ordnungsgemäßen Verhüllung dünne Stoffumhänge aus ihren Handtaschen.

Alona S., in Bachtschyssaraj aufgewachsen, arbeitet heute in der Kundenverwaltung für eine Programmierungsfirma in Sewastopol. Die junge Frau entstammt einer russisch-orthodoxen Familie und berichtet, „viel tatarisches Blut in mir“ zu haben. Dies verweist darauf, daß das Tatarenvolk eine bunte Mischung verschiedener Volksstämme aus allen Himmelsrichtungen darstellt – und der Islam erst spät als ergänzendes Identifikationsmerkmal angenommen wurde. Alona erinnert sich zurück an ihre Kindheit, als die ersten Familien aus der Ferne zurückkamen: „Unweit unseres Hauses fand regelmäßig ein Wochenmarkt statt. Dann kam heraus, daß vor der Asphaltierung der Fläche ein heiliges Gräberfeld eingeebnet worden sein soll. Mit vorgehaltener Waffe haben einige Tatarenmänner die russischen Händler vertrieben.“ Eine Frage der „Ehre“.

Heute ist der Bereich des islamischen „Asis-Friedhofs“ noch immer eine Betonwüste – nur ein kleiner Gedenkstein ist dazugekommen. Die Fläche wird als Parkplatz genutzt.

„Krieg ist nicht unsere Strategie“, sagt Dschemilow, „dazu sind wir auch zu wenige.“ Dennoch gebe es innerhalb der Gemeinschaft auch „destruktive Elemente“ wie die islamistische „Hisbut Tahrir“ – oder heimkehrende Veteranen aus dem syrischen Bürgerkrieg, gibt der Tataren-Repräsentant zu. Auf Zahlen mag er sich nicht festlegen. Nur soviel: Sollte sich die Tatarenversammlung einig sein, habe man „natürlich viele wehrbereite Männer.“ Die Tschetschenen, so Dschemilow mit einem Augenzwinkern, hätten das Kämpfen schließlich von den Tataren gelernt. Diplomatische Worte zum Abschied: „Es geht um zivilen Widerstand – und diese Idee hatten wir schon vor Gandhi.“

Foto: Plausch vor dem Khan-Palast in Bachtschyssaraj / Wortführer Mustafa Dschemilow (l.): Kritik an der Zurückhaltung des Westens

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