© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

„Das ist nur die Spitze des Eisbergs“
Ist der NSA-Skandal ein Einzelfall? Nein, sagt der Historiker und Enthüllungsautor Daniele Ganser, US-Geheimdienste unterhalten seit Jahrzehnten in Europa illegale Strukturen und brechen Recht und Gesetz, während unsere Regierungen wegschauen.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Ganser, haben die NSA-Enthüllungen Sie überrascht?

Ganser: Nein, das ist lediglich die Spitze des Eisbergs.

Inwiefern?

Ganser: Verdeckte Aktionen von US-Diensten in Europa und anderen Kontinenten jenseits von Recht und Gesetz sind nichts Neues – sie haben Tradition.

Konkret?

Ganser: Es geht dabei nicht nur um Überwachung, wie im Fall NSA, sondern um verdeckte Kriegsführung, Mord, Folter, Terrorismus, Destabilisierung demokratischer Verhältnisse – mit Wissen oder Unterstützung oder gar im Auftrag westlicher Geheimdienste. Kurz, es geht um die dunkle Seite des Westens.

Klingt nach einer Räuberpistole.

Ganser: Finden Sie? Die Existenz entsprechender Netzwerke wurde bereits 1990 vom italienischen Regierungschef Giulio Andreotti offiziell eingeräumt.

Wenn diese illegal und kriminell sind, warum hat er ihre Existenz dann zugegeben?

Ganser: Weil der italienische Untersuchungsrichter Felice Casson, der den Peteano-Terroranschlag von 1972 untersuchte – der bis dahin den Kommunisten angelastet wurde –, ans Licht brachte, daß einer der Täter der Rechtsextremist Vincenzo Vinciguerra war, der zugab: „Die Männer, die an solchen Operationen teilnahmen, waren Männer des Staates.“ Vinciguerra erklärte, es gebe im Staat eine Geheimarmee, „Gladio“ genannt, die von CIA und Nato gegründet worden sei.

Stichwort „Stay behind“.

Ganser: Was „hinter den feindlichen Linien kämpfen“ bedeutet. So bezeichneten CIA und Nato intern die von ihnen geschaffenen Geheimarmeen in Europa.

Auch in Deutschland?

Ganser: Auch in Deutschland. Am bekanntesten wurde hier der Bund Deutscher Jugend, eine rechte Gruppe, die heimlich als paramilitärische Guerilla im Auftrag der CIA gedrillt wurde.

Worum ging es?

Ganser: Nach 1945 fürchteten die USA eine sowjetische Invasion in Westeuropa. Daher stellte man in mehreren westeuropäischen Staaten geheime Kommandos aus politisch zuverlässigen Zivilisten auf. Diese sollten im Falle einer sowjetischen Besetzung hinter der Front aktiv werden, um Informationen zu funken, Agenten zu schleusen und Sabotageaktionen durchzuführen.

Eine legitime Militärstrategie.

Ganser: An sich ja, nur lief das Programm ohne Wissen der Parlamente.

Eine läßliche Sünde?

Ganser: Nein, das war Verfassungsbruch. Es darf in einer Demokratie keine bewaffneten Kräfte außerhalb der Kontrolle des Parlamentes geben. Zudem rekrutierte man ohne Skrupel auch ehemalige Nazis.

Wer gegen Hitler mit Stalin kollaboriert, kann auch mit ehemaligen Nationalsozialisten gegen den Kommunismus kämpfen.

Ganser: Inzwischen war der Krieg vorbei, es hatte die Nürnberger Prozesse gegeben, die USA erklärten öffentlich, sie wollten die Nazis bekämpfen und entwaffnen – und heimlich integrierten sie sie in eine antikommunistische Geheimarmee. Das ist delikat, weil die „Stay behind“-Kräfte nicht nur gegen Besatzer aktiv werden sollten, sondern auch gegen innere Feinde: Bürger, die vielleicht mit den Besatzern kollaboriert hätten. Und wer war das? Aus Sicht der Geheimkämpfer Kommunisten, Sozialdemokraten, kritische Journalisten und Anhänger der Friedensbewegung. Man erstellte in Deutschland sogar Proskriptionslisten mit Personen, die im Ernstfall zu liquidieren waren.

Das betrachten Sie als den Übergang von der Guerillatruppe zur Terrorzelle?

Ganser: Nun, demokratische Strukturen wurden dadurch unterwandert und geschwächt, Proskriptionslisten von Geheimarmeen sind sehr problematisch. Als im Zuge des gesellschaftlichen Wandels in Westeuropa linke Regierungen an die Macht kamen, nahm die Angst konservativer Kräfte in CIA und Nato zu. In Italien wurden die Kommunisten immer stärker, und es setzte die „Strategie der Spannung“ ein: Extremisten verübten Terroranschläge unter falscher Flagge – die man den Linken in die Schuhe schob –, um diese zu diskreditieren und ein Klima der Angst zu erzeugen, damit das Volk konservative statt linke Regierungen wählt und repressiven Polizeimaßnahmen zustimmt. In Italien starben bei solchen Terroranschlägen viele Dutzende Menschen. Bis heute ist es sehr schwierig, die Strategie der Spannung aufzuklären, da staatliche Akteure involviert sind. Der schon erwähnte Vincenzo Vinciguerra erklärte vor Gericht, daß es darum ging, Zivilisten zu töten: „Männer, Frauen, Kinder, unschuldige Menschen anzugreifen, damit das Volk den Staat um größere Sicherheit bittet.“

Sie sagen, „Stay behind“ sei auch am Oktoberfestanschlag von 1980 beteiligt gewesen.

Ganser: Ich sage nicht, daß es mit Sicherheit so war, aber ich frage, ob sie damit etwas zu tun hatten. Warum? Weil es Hinweise dafür gibt. Zur Zeit des Anschlages war die Existenz der Nato-Geheimarmeen noch nicht bekannt. Doch hatten Rechtsextreme eingeräumt, daß Heinz Lembke sie mit Waffen und Sprengstoff versorgt habe. Doch dieser Spur ging die Polizei nicht nach, was mich erstaunt. Hat Lembke ein Waffenlager der Geheimarmee geführt? Als der Mann schließlich doch verhaftet wurde und 1981 aussagen wollte, fand man ihn anderntags erhängt in seiner Zelle.

Wenn „Stay behind“ schon seit 1990 bekannt ist, wieso wurde das Thema bis zu Ihrem Buch „Nato-Geheimarmeen in Europa“ 2005 nicht näher erforscht?

Ganser: Die Quellenlage ist kompliziert, im Bereich der verdeckten Kriegsführung weiß man oft nicht, was Lüge und was Wahrheit ist, weil Täuschung zum Geschäft gehört. Die Geschichtsforschung darf aber wegen dieser Probleme das Feld nicht einfach unbeachtet lassen und so tun, als gebe es keine verdeckte Kriegsführung, denn das ist völlig falsch.

Wieso haben schließlich ausgerechnet Sie sich dem Thema gewidmet?

Ganser: Als junger Mann habe ich geglaubt, wir – der Westen – seien die Guten, kämpften für Freiheit und Recht. Dann studierte ich die verdeckte Kriegsführung des Westens, also der Nato-Staaten, und war schockiert. Ich realisierte, daß der Westen nicht nur Diktatoren stürzte, sondern auch demokratisch gewählte Präsidenten, wie 1953 im Iran, 1954 in Guatemala oder 1973 in Chile. Und daß der Westen brutale Folterer wie Augusto Pinochet an die Macht brachte, der Kritiker über dem offenen Ozean aus Flugzeugen werfen ließ. Und ich lernte, daß die USA genauso skrupellos wie die Kommunisten oder Nazis Lügen inszenieren, um Kriege zu beginnen, wie den Tonkin-Zwischenfall 1964, der den Vietnamkrieg legitimierte oder Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen, um 2003 den Irak anzugreifen. Moderne Friedensforschung muß diese Kriegslügen offenlegen.

Kritiker nennen Sie einen Antiamerikaner.

Ganser: Die USA haben inzwischen zugegeben, daß es die Massenvernichtungswaffen gar nicht gab. Und es sind US-Dokumente, die belegen, daß der Tonkin-Zwischenfall erfunden war. Ebenso ist in CIA-Dokumenten belegt, daß sich US-Agenten im Iran 1953 als Terroristen verkleidet haben, um mit Terroranschlägen den demokratisch gewählten Präsidenten Mossadegh zu stürzen. Da erkennen Sie die Blaupause! Wir im Westen glauben gern: „So etwas macht der Westen doch nicht.“ Falsch! Er macht es, und ich könnte zahlreiche weitere Beispiele nennen. Irgendwann dämmert einem dann, daß der Westen, angeführt von den USA, wie jede andere Macht knallhart seine Interessen verfolgt. Dann kann man das Gerede von der Förderung von Demokratie und Freiheit in der Welt nicht mehr hören, weil man weiß, daß es nur dazu dient, Wirtschaftskriege zu legitimieren.

Wenn Sie als Referenz die Terroristen und Extremisten nehmen, gegen die wir im „Krieg gegen den Terror“ oder im „Kampf gegen Rechts“ kämpfen, wie schneidet der Westen im Vergleich dann ab?

Ganser: Wenn Sie die Zahl der Toten von Terroranschlägen addieren und die Zahl der Toten westlicher Militäreinsätze, dann tötet der Westen wesentlich mehr Menschen. Allein im Irak-Krieg 2003, der von den USA und Großbritannien angefangen wurde, starben mehr als 100.000 Menschen, in Vietnam mehr als drei Millionen. Ich sage nicht, Terroristen sind weniger schlimm, sondern will zeigen, daß viele westliche Regierungen das Recht auf Leben und Würde auch nicht mehr achten als Terroristen.

„Stay behind“ wird heute als Skurrilität des Kalten Krieges betrachtet. Sie dagegen sagen, Sie zeigen, in welcher Welt wir auch heute noch leben.

Ganser: Natürlich, die Lehre aus meinen Studien ist, daß Medienmanipulation und verdeckte Kriegsführung Methoden sind, mit denen wir auch heute – und auch bei uns in Europa – jederzeit rechnen müssen!

Laut dem „Stern“ waren während des mutmaßlichen NSU-Polizistenmordes von Heilbronn Agenten des US-Geheimdienstes DIA nahe des Tatorts im Einsatz. Inzwischen gilt das „Stern“-Dokument als Fälschung. Was meinen Sie?

Ganser: Ich kann nicht sagen, ob es echt ist. Aber ich kann sagen, daß eine oft eingesetzte Strategie verdeckter Kriegsführung zum Beispiel so funktioniert, daß eine Übung durchgeführt wird: Während dieser passiert dann wie zufällig ein „Real War Event“, also ein echter Zwischenfall. Mann kann dann reagieren und hinterher erklären, es sei nur eine zufällige Koinzidenz gewesen.

Sie wollen sagen, US-Agenten könnten in Heilbronn alles inszeniert haben?

Ganser: Nein, will ich nicht, weil ich es nicht weiß. Ich will nur sagen, was nach meiner Erfahrung alles möglich ist – wie Geheimdienste arbeiten. Und daß mich Berichte wie dieser daher stutzig machen – ohne eine Antwort zu haben.

Laut „Stuttgarter Nachrichten“ sollen am Tattag Beamte des FBI in Heilbronn unterwegs gewesen sein. Ist es normal, daß sich Agenten von US-Diensten täglich in deutschen Provinzstädten tummeln?

Ganser: Eine berechtigte Frage, denn es entsteht das Bild eines besetzten Landes.

Ist das so?

Ganser: Besetztes Land ist etwas drastisch formuliert. Natürlich ist Deutschland nicht besetzt wie es 1945 besetzt war. Aber im Land sind Basen der US-Armee, der US-Luftwaffe, US-Kommandoeinrichtungen, NSA-Horchposten, FBI-Agenten und sicher auch weiterer US-Dienste. In Deutschland bezeichnet man die USA ja gerne als Freund – vergißt dabei aber, daß die USA den anderen Nationen keineswegs trauen und schlicht ihre Interessen verfolgen, wozu Wirtschaftsspionage ebenso gehört wie Überwachung von Politikern und Bevölkerung oder Medienmanipulation.

Wir geben also unsere Souveränität preis?

Ganser: Die USA sind ein Imperium, und Deutschland muß sich daher immer wieder unterordnen. Sie erkennen das Imperium daran, daß es über die größten Armeeausgaben, die größte Luftwaffe und Flotte und meisten Militärstützpunkte weltweit verfügt und zudem die größte Volkswirtschaft und die Weltreservewährung hat und daß es den Diskurs bestimmen kann.

Zum Beispiel?

Ganser: 2003 riefen die USA zum Krieg gegen den Irak auf, und die Presse in den USA und Europa ließ sich dafür einspannen. Auch wenn einige europäische Medien diesen Krieg ablehnten und es in Europa auch zu Friedensdemonstrationen kam, konnte Amerika das Thema doch als legitim und diskussionswürdig durchsetzen. Natürlich sind unsere Medien unabhängig, aber auch sie sind eingebettet in einen Konsens. Das erlaubt ihnen zwar etwas Spielraum, aber nicht wirkliche Freiheit. Denn es gibt Grenzen, die können sie nicht überschreiten, wenn sie im Spiel bleiben wollen. Und die Deutungshoheit für diese Grenzen – zumindest in außenpolitischer Hinsicht – kommt aus den USA.

Deshalb also sehen Sie die NSA-Affäre auch nicht als isoliertes Phänomen?

Ganser: Eben, sie ist nur ein kleiner, sichtbar gewordener Teil der imperialen Struktur, die wir sonst nicht wahrnehmen. Das Imperium möchte unsichtbar sein. Wenn es doch einmal sichtbar wird, versucht es sich wenigstens als „gutes“ Imperium darzustellen, dessen ganzer Zweck es ist, den Menschen zu helfen: Überwacht wird nur, um Extremisten zu finden und bombardiert nur aus humanitären Gründen. Das Ziel des Imperiums ist es, daß wir das wirklich glauben.

Kommen wir aus dem Imperium je heraus?

Ganser: Die Frage ist, wollen wir überhaupt heraus? Denn unsere Regierungen und Teile unserer Wirtschaft profitieren von der Zusammenarbeit mit ihm. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Imperialismus und dem verlogenen „Krieg gegen den Terrorismus“ fehlt in unserer öffentlichen Debatte bis heute leider fast ganz.

 

Dr. Daniele Ganser, erregte 2005 mit seiner Studie „Nato-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung“ (Orell Füssli) erhebliches Aufsehen in Europa. In elf Nato-Staaten sowie in Schweden, Österreich, Finnland und der Schweiz, so der Historiker, seien „Stay behind“-Organisationen tätig gewesen. In Italien, Frankreich, Belgien, Griechenland und der Türkei hätten sie gar innenpolitisch mitgemischt, bis hin zu Terroranschlägen. Das in zehn Sprachen – 2008 auch ins Deutsche – übersetzte Buch rief allerdings auch Kritiker auf den Plan. Gansers Qellenlage sei dünn, seine Schlußfolgerungen mitunter zu weitgehend. Andererseits lobt etwa die FAZ Gansers Werk als „in seiner Gesamtschau bemerkenswert“, und für den renommierten Politologen Wolfgang Kraushaar ist es die „bislang fundierteste historische Studie“ zum Thema. Geboren wurde Ganser 1972 in Lugano.

Foto: Schattenkrieger (Symbolbild): „Die NSA war nicht der Anfang, illegale verdeckte Aktionen von US-Geheimdiensten in Europa haben Tradition“

 

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