© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

Pankraz,
der Christ und die schrecklichen Kinder

Der „neue Sloterdijk“, das Buch „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ (Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014, 489 Seiten, 26,95 Euro) ist von der Form her ganz der alte. Sein Autor Peter Sloterdijk, Professor für Ästhetik und Philosophie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und deren Rektor, legt größten Wert darauf, seine Texte jeweils „in Geschenkpapier darzureichen“, und das ist ihm auch jetzt wieder gelungen. Man fühlt sich bei der Lektüre gut unterhalten, liest das Werk mit vergnügtem Wohlwollen – aber bald auch mit ungläubigem Erstaunen, ja Entsetzen!

Der Mann ist ein exquisieter Wortschöpfer und Perspektivenaufreißer, der immer wieder überraschenden Neusprech anbietet. Aber was er hier in Geschenkpapier eingewickelt hat, ist bitterstes Schwarzbrot. Man darf sich darüber wundern, daß die bisherigen Rezensenten – bis auf einen – sich so wohlwollend über das Buch geäußert haben, sind sie doch alle überzeugte, „aufgeklärte“ Progressisten, über jederlei „konservative, reaktionäre Kulturkritik“ erhaben! Hier nun kriegen sie nicht nur Kulturkritik und Zukunftsskepsis vorgesetzt, sondern wüsteste Zukunftsverdammnis. Joseph de Maistre und Nicolás Gómez Dávila sind harmlos dagegen.

Die Neuzeit seit der Renaissance, so Sloterdijk, war ein einziger Höllentrip, und der befindet sich heute, just in unseren, zumindest was Europa betrifft, „aufgeklärten“ Tagen, auf seinem Tiefpunkt. Und nicht genug damit: Verantwortlich für diesen Höllentrip war gerade das, was doch das angeblich „finstere Mittelalter“ mit seiner wissenschaftlichen Ignoranz und sozialen Kälte beendet zu haben begehrt, eben die Renaissance und die Aufklärung. Und keine Umkehr ist in Sicht, die Katastrophe breitet sich immer nur weiter aus.

Als Treibstoff für die Höllenfahrt benennt Sloterdijk das durch die Neuzeit bewirkte Versagen der „Filiation“, will sagen: den Abbruch der Beziehungen zwischen den aufeinander folgenden Generationen, die bewußte Zerstörung jeglicher Tradition. Jede neu ans Ruder kommende Generation hege seit Anbruch der Renaissance nur noch Spott und Hohn für die Lehren der Väter, weigere sich, deren Erbe anzutreten, breche ständig zu absolut „neuen Ufern“, also gewissermaßen ins Nichts auf – und falle, sagt Sloterdijk, dadurch auch wirklich ins Nichts.

Man nehme auf nichts mehr Rücksicht, weder auf Quellen noch auf Personen, die dem „Fortschritt“ angeblich im Weg stehen, weder auf Vergangenheit noch auf Zukunft. Zudem sei man sich vielleicht noch halbwegs klar über die eminenten Gefahren einer strikten Erbe-Verweigerung, setze sich jedoch einfach keck darüber hinweg. Die Generaldevise der schrecklichen Kinder der Neuzeit laute demzufolge: „Nach uns die Sintflut!“ Bekanntlich hat nicht Voltaire diese zynische Parole ausgegeben, sondern Madame de Pompadour, die blindlings genießende Repräsentantin des Ancien régime.

In der ausführlichen Wiedererzählung und Ausfaltung solcher historischer Momente liegt unbestritten der Reiz des neuen Sloterdijk. Passagenweise führt er in wahrhaft schauerliche Bezirke, so wenn er etwa – im Anschluß an die Bücher Robert Conquests – die Umstände der Ermordung der russischen Zarenfamilie 1918 durch die Bolschewiken schildert oder konkrete Vorfälle aus der Zeit Stalinscher Genickschußpraktiken. Dann denkt der Leser beeindruckt: Vielleicht wäre Sloterdijk doch besser Geschichtenerzähler geworden statt Philosoph und Analytiker.

Philosophisch nämlich hat das Buch seine Schwächen, erinnert fatal an den ersten Band seiner „Sphären“-Bücher, mit dem er beweisen wollte, daß all unsere menschliche Einsamkeit aus der Trennung von der Nachgeburt herrühre. Bei unseren pränatalen Anfängen seien wir ja inniglich mit dem Mutterkuchen, der Plazenta, verbunden gewesen, „der Mutterkuchen war unser ‘Mit’“. Bei der Geburt aber, die uns selbst zum Menschen macht, werde dieses unser „Mit“ zur bloßen „Nachgeburt“, die man wegschmeißt oder zu Granulat verarbeitet. Wir suchten nun ein Leben lang nach der verlorenen Nachgeburt.

Vergleichbares passiert in dem jetzigen Buch mit den schrecklichen Kindern der Neuzeit. Der Ärger mit ihnen, resümiert Sloterdijk, rühre nicht nur aus Renaissance und Aufklärung, sondern reiche zurück bis zu Jesus Christus, dem Gott des Christentums und des Abendlands. Jesus sei laut Auskunft der Schrift „der Sohn Gottes“, dazu bestimmt, die Sünden dieser Welt auf sich zu nehmen, Sünden, welche doch sein Vater, der Schöpfer der Welt, höchstselbst angerichtet hat. Jesus sei in Wahrheit nicht damit einverstanden gewesen (Seufzer am Kreuz: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“) und sei so zum ersten der schrecklichen Kinder der Neuzeit und zu deren ewigem Leitbild geworden.

Nachgeburt oder Christus am Kreuz – die Wucht der Zuschreibung, die Sloterdijk ihnen angedeihen läßt, kann weder theoretisch noch narrativ überzeugen. Speziell im Hinblick auf den Traditionsbruch, den die schrecklichen Kinder verübt haben und weiterhin verüben, gewinnt sie geradezu apologetische Komik: „Ihr werft uns mangelnden Respekt vor den Vätern und ihrem Erbe vor? Aber Jesus Christus selbst hat uns doch dazu erzogen!“

Vielleicht ist es diese verkappte Apologie, die das Buch bei so vielen Rezensenten in so günstigem Licht erscheinen läßt. Vaterlose Generationen und solche, denen beigebracht worden ist, die Väter zu verachten, empfinden eben gar nicht mehr die Kompliziertheit menschlicher Traditionspflege, wie sie die großen Religionen (siehe Konfuzius, siehe Viertes Gebot) mit Sorgfalt zu regeln versuchen. Die Kinder glauben, daß es einen originär kulturellen Traditionsbestand gar nicht geben dürfe, daß dergleichen lediglich „unnatürliche“ Bevormundung und Unterdrückung sei.

Und das Abendland wird unter solchen Prämissen peu à peu zum Kindergarten und macht sich reif für die Übernahme durch die Barbaren. Oder sind die Kinder des Abendlands die eigentlichen Barbaren?

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